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Teilhabe für alle: So fördern Sie die Gleichberechtigung
Menschen mit Behinderung sollten längst gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt haben – der Realität entspricht das allerdings nicht. Eine Unternehmenskultur gegenseitiger Rücksichtnahme und ein sensibler Umgang mit psychischen Erkrankungen wären Schritte in die richtige Richtung.
Welche Hilfsmittel, die von oder für Menschen mit Behinderung entwickelt wurden, nutzen Sie täglich beruflich oder privat? Wahrscheinlich mehr, als Ihnen jemals bewusst waren, wie beispielsweise Telefon oder E-Mail. Alexander Graham Bell entwickelte die Idee zum Telefon als Kombination seines Interesses an der Klangforschung und seiner Erfahrungen in der Therapie von gehörlosen Menschen. Und Vinton Cerf, einer der „Erfinder des Internets“, hatte sich – auch aufgrund seiner fortschreitenden Gehörlosigkeit – früh um sprachunabhängige Kommunikationsformen bemüht und so die E-Mail erfunden. Auch Schreibmaschinen, SMS, Chatfunktionen und Sprachassistenten sind eng verknüpft mit der Entwicklung von praktischen Hilfsmitteln von und für Menschen mit Behinderung.
Diese Liste von Erfindungen ließe sich weiter fortsetzen. Interessant ist, wie der technologische Fortschritt und die Suche nach größerer Barrierefreiheit dabei oft Hand in Hand gingen und gehen. Nicht umsonst bezeichnen viele Menschen behinderungsübergreifend ihr Smartphone als das wichtigste Hilfsmittel im Alltag.
Chancen eines inklusiven Arbeitsmarktes
Wie sieht es nun mit den Möglichkeiten für einen inklusiven, digitalen Arbeitsmarkt aus und welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung? Grundsätzlich sollte der Arbeitsmarkt längst inklusiv sein und Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit sollten sogar bevorzugt eingestellt werden, wie wir es standardisiert in den meisten Stellenausschreibungen lesen.
Rund drei Millionen Menschen mit Behinderung stehen dem Arbeitsmarkt
zur Verfügung
Rund drei Millionen Menschen zwischen 15 und 64 Jahren mit einer Behinderung stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Die Beschäftigungsquote in dieser Gruppe liegt aber mit 25 bis 30 Prozent unter der Quote gleichaltriger Menschen ohne Behinderung. Rund 170.000 Menschen mit einer Behinderung sind aktiv auf Jobsuche, viele von ihnen gehören zur Altersgruppe der über 45-Jährigen. Viele Menschen mit einer Behinderung sind bei gleicher oder sogar besserer Qualifizierung länger auf Arbeitssuche als Menschen ohne Behinderung.
Inklusion fördern: Wie gelingt das?
Grundsätzlich sollte eine Behinderung kein Hindernis für die Auswahl oder Ausübung eines bestimmten Berufs sein, mit wenigen Ausnahmen, die nicht durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können oder die eine Gefahr darstellen könnten. Manche Berufe eignen sich für manche Behinderungen besonders – was natürlich nicht bedeutet, dass die Auswahl darauf beschränkt ist.
Auf dem Internetportal EnableMe sind eine Vielzahl an Artikeln und Informationen zu finden, die über Themen der inklusiven Arbeitswelt für Betroffene und für Unternehmen berichten. Es gibt eine Jobbörse für inklusive Stellenangebote und konkrete Beispiele, wie Sie Stärken erkennen und als Vorteil nutzen können. Hier lesen Sie zum Beispiel auch, welche Berufe sich für Menschen mit einer Depression eignen und erhalten viele weitere Tipps rund um die Berufswahl. Im Büroumfeld stehen prinzipiell für jede körperliche Behinderung passende Hilfsmittel zur Verfügung – die Herausforderung ist, darüber Bescheid zu wissen und das passende Angebot zu finden und zu finanzieren. Es gibt unter anderem spezielle Hard- und Software, um Seheinschränkungen auszugleichen (wie extra große Bildschirme oder Vorleseassistenten und Sprachsteuerung), Schwenkmodule, verstellbare Tische, Joysticks und vieles mehr.
Förderung
Wer Menschen mit Behinderung beschäftigen will, sollte sich vorher über Unterstützungsmöglichkeiten informieren. Die Arbeitsagenturen und Inklusionsämter geben Tipps zu Förderungen. Zuschüsse gibt es für die Ausstattung des Arbeitsplatzes und für die Personalkosten. Die Inklusionsämter bezahlen oder bezuschussen auch Jobcoaches, die den Menschen mit Behinderung direkt am Arbeitsplatz bei der Einarbeitung unterstützen. Beratungsstellen sind zudem die Integrationsfachdienste (IFD), die beispielsweise bei Personalgesprächen Gebärdendolmetscher zur Verfügung stellen.
Insbesondere in drei entscheidenden Bereichen gibt es aber noch viel zu tun, um die Inklusion am Arbeitsplatz zu verbessern:
- im Bereich der kollegialen Aufmerksamkeit und Unternehmenskultur
- im Umgang mit psychischen Erkrankungen und
- bei der Eingliederung von Menschen, die aus dem sogenannten zweiten auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln möchten
1. Kollegiale Aufmerksamkeit stärkt die Unternehmenskultur
Das erste Thema ist für jedes Unternehmen entscheidend, denn es berührt die Unternehmenskultur. Dabei ist zwischen den sichtbaren und nicht sichtbaren Behinderungen zu unterscheiden. Ungefähr 20 Prozent der Behinderungen sind sichtbar, beispielsweise Rollstuhlfahrende oder blinde Menschen, und finden in der Regel Berücksichtigung und Unterstützung durch geeignete Hilfsmittel. Aber auch hier kommt es auf die Bereitschaft der Kollegen an, kleine Veränderungen in ihrer Arbeitsweise umzusetzen, um als Team zu funktionieren und alle zu integrieren.
So wird es für alle einfacher, wenn die jeweiligen Bedürfnisse von Anfang an von allen Kollegen mitbedacht werden. Beispiele: Dokumente direkt so anfertigen, dass sie barrierefrei zugänglich sind – durch Screenreader-Tauglichkeit für die Kollegin mit geringer Sicht. Oder eine Meeting-Agenda und verbindliche Protokolle, die die wichtigsten Ergebnisse und Aufgaben festhalten, um klare Verantwortlichkeiten zu regeln und den Überblick zu behalten – für Kollegen, die ein hohes Strukturbedürfnis haben oder nicht an jedem Meeting vor Ort teilnehmen können. Ebenso unterstützt die barrierefreie Planung von Teamtagen und Ausflügen Inklusion am Arbeitsplatz. Dies bedeutet zum Beispiel, verschiedene Anforderungen an Mobilität zu berücksichtigen wie barrierefreie Toiletten, Rampen oder Aufzüge.
In der Regel sind solche Maßnahmen, wenn sie von vornherein berücksichtigt werden, kein besonderer Mehraufwand. Aufwendig werden sie nur dann, wenn sie in der Planung vergessen wurden. Je sensibler ein Team für potenzielle Barrieren und den passenden Umgang damit ist, desto höher sind meist der innere Zusammenhalt und die gegenseitige Rücksichtnahme, auch bei anderen Themen oder Belastungen. Sich dessen bewusst zu sein und die eigene Kultur in diese Richtung zu bestärken und gegebenenfalls zu ändern, bringt Unternehmen oft eine hohe Zufriedenheit und Loyalität der Mitarbeitenden. Wie sich diese Kulturveränderung vollziehen lässt, ist ein Prozess, für den es bereits gute Beratungen und Begleitungsangebote gibt, unter anderem durch Organisationen wie MyAbility oder Inklupreneur.
Wer erste Erfahrungen im Umgang mit unterschiedlichen Behinderungen sammeln möchte, sollte unbedingt das Dialoghaus in Hamburg besuchen. Hier begegnen einem unterschiedliche Behinderungen sehr eindrücklich und sensibilisieren für den entspannten Umgang damit.
Aufmerksamkeit für unsichtbare Behinderungen stärken
Rund 80 Prozent der Behinderungen sind nicht sichtbar. Somit stellt sich für die Betroffenen die Frage, ob sie sich im Kollegenkreis und gegenüber der Unternehmensführung überhaupt öffnen und sich zu ihrer Behinderung bekennen sollen. Solange mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit in erster Linie Stigma, Schwäche und geringere Leistungsbereitschaft oder -fähigkeit assoziiert werden, bedeutet die Öffnung eine große Hürde. Erst wenn es möglich ist, die individuellen Bedürfnisse und Arbeitsweisen offenzulegen und die Arbeitsorganisation diesen Bedürfnissen anzupassen, werden Arbeitsumfelder wirklich inklusiv.
Mittlerweile ist bekannt, dass die Angst vor der Stigmatisierung und die dadurch fehlende Offenlegung eine negative Kettenreaktion auslösen können. Aus fehlendem Wissen folgt mangelnde Unterstützung, diese kann neben der Ursprungsdiagnose zu weiteren psychischen und physischen Belastungen und wiederum im Verlauf zu vermehrten Arbeitsausfällen führen. Eine Arbeitnehmerin, die ihre Bedürfnisse ohne Sorge offenlegen kann und dabei auf ein Arbeitsumfeld trifft, das damit konstruktiv umgehen kann, verliert keine Zeit damit, ihre Behinderung oder Erkrankung zu verstecken. So reduziert sich das Stresslevel der Betroffenen und erhöht gleichzeitig ihre Produktivität, wenn sie ihren Arbeitsalltag entsprechend ihren persönlichen Erfordernissen gestalten können. Maßnahmen der Vorsorge und Rücksichtnahme können sehr individuell sein, wie vermehrte Pausen, selbstbestimmte Arbeitszeiten, Homeoffice-Möglichkeiten oder Ruheräume. Meistens kommt das dem gesamten Team zugute.
Aktuell wird unter Safe Space ein digitales Instrument entwickelt, um den Weg der Offenlegung zu begleiten und Arbeitnehmer sowie Unternehmen dabei zu informieren und zu unterstützen. Je länger eine Behinderung, Krankheit oder Einschränkung versteckt und kompensiert wird, umso gravierender sind in der Regel die dadurch entstehenden tatsächlichen und psychischen Kosten und Ausfälle und umso länger kann die Zeit werden, bis eine Person wieder mit ihrer vollen Kraft arbeiten kann. Von der Zufriedenheit und dem allgemeinen Wohlbefinden ganz zu schweigen.
2. Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz
Der zweite Bereich bezieht sich auf unseren Umgang mit psychischen Erkrankungen. Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) wird jeder vierte Erwachsene im Laufe seines Lebens mit einer psychischen Erkrankung konfrontiert. Dennoch ist es bisher nicht üblich, über diese Diagnose zu sprechen und den richtigen Umgang damit zu finden. Und auch hier gilt: Je früher eine Erkrankung erkannt und behandelt wird, desto kürzer ist in der Regel die Behandlungszeit und desto schneller gesunden die Menschen.
Bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall geht es um schnelle Hilfe und genau deswegen ist es üblich, betriebliche Ersthelfer auszubilden, die eingreifen und versorgen können, bis ein Krankenwagen oder ein professionelles Rettungsteam vor Ort sind. Genauso wichtig ist es, psychische Probleme rechtzeitig zu erkennen und früh einzugreifen. Deswegen besteht nun auch die Möglichkeit, Mentale Ersthelfer auszubilden oder sich im Unternehmen mit der Prävention und dem Umgang psychischer Erkrankungen vertraut zu machen und im Ernstfall handlungsfähig zu sein. Dafür gibt es ebenfalls Beratungsangebote, zum Beispiel durch Vereine und Organisationen wie „Irrsinnig Menschlich“.
3. Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt eingliedern
Die dritte und wahrscheinlich größte Aufgabe für einen inklusiven Arbeitsmarkt ist es, Menschen, die bisher auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt – also beispielsweise in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) – beschäftigt waren, in den regulären oder sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Aktuell sind rund 300.000 Menschen in diesem Bereich beschäftigt. Initiativen wie JOBInklusive bauen ein Netzwerk aus allen zuständigen Ansprechpartnern und unterstützen sowohl Beschäftigte als auch Unternehmen bei der Transformation. Auch das Deutsche Inklusionszentrum verfolgt dieses Ziel mit inklusiven Ausbildungsangeboten.
Die Digitalisierung als Chance untersucht die Aktion Mensch in ihrer Studie „Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderung“ und kommt zu folgenden Ergebnissen: Grundvoraussetzung für digitale Teilhabe sei die Beteiligung der Betroffenen an der Gestaltung der digitalen Umgebungen und die Berücksichtigung unterschiedlicher Zugänge und Voraussetzungen, um Barrierefreiheit für alle zu ermöglichen. Die größten Potenziale liegen laut der Studie in den Bereichen Sensorik, Sprachsteuerung und Bionik (zum Beispiel in der Entwicklung von Prothesen), in der Robotik und im Bereich E-Health.
Fazit
Trotz der vielen guten Veränderungen ist es noch ein weiter Weg, bis ein offener Umgang mit Behinderung und chronischer Krankheit in unserer Gesellschaft selbstverständlich ist. Das Ziel ist es, in naher Zukunft in einem inklusiven Land barrierefrei leben, arbeiten und reisen zu können. Niemand von uns weiß, ob oder wann eine Behinderung oder Krankheit im eigenen Leben eintritt – aber je älter wir werden, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit dafür. Wenn wir uns also alle dafür einsetzen, die besten Voraussetzungen für diesen Fall zu schaffen – insbesondere durch Arbeitsumfelder, die uns unabhängig von unserem gesundheitlichen Zustand Teilhabe garantieren –, sorgen wir in unserem besten eigenen Sinn vor.
DIE AUTORIN:
Kaija Landsberg ist verantwortlich für das Internetportal EnableMe.de. Als Geschäftsführerin leitet sie die gemeinnützige, operative und spendenfinanzierte Stiftung MyHandicap gGmbH. EnableMe bietet Informationen, Unterstützung und Austausch zu Behinderungen und chronischen Krankheiten an. Das Ziel des Portals ist die Hilfe zur Selbsthilfe für ein möglichst selbstbestimmtes Leben.
www.enableme.de