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Entlastung durch Exoskelette
Aktive Systeme lernen durch KI
Fachkräftemangel ist in vielen Branchen ein großes Problem. In körperlich anstrengenden Berufen kommt noch hinzu, dass viele Menschen ihren Job gar nicht bis zum Rentenalter ausüben können. Für Abhilfe könnten Exoskelette sorgen, die ihre Nutzer bei verschiedenen Tätigkeiten entlasten. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) werden diese „Roboteranzüge“ immer präziser.
Text: Holger Schmidt (Redaktion)
AUF DEN PUNKT
- Wearables können Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen
- Smarte Exoskelette lernen aus anonymisierten Daten
- Präzise Anpassung an verschiedene Tätigkeiten und den jeweiligen Nutzer
Den Lagerarbeiter beim Logistikunternehmen, den Gepäckabfertiger am Flughafen und die Pflegekraft im Altenheim verbindet eine Gemeinsamkeit: Sie bewegen schwere Lasten. Mehrfach. Täglich. Dafür müssen sie sich erst bücken, dann einen Karton, einen Koffer oder einen Menschen (an-)heben und schließlich von A nach B bewegen. Jobs, die im wahrsten Sinne auf die Knochen gehen. Die Folge sind Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE), die nicht selten Fehltage nach sich ziehen oder sogar dazu führen, dass die Beschäftigten ihren Beruf nicht mehr ausüben können (oder wollen). Fast ein Viertel aller Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland sind auf MSE zurückzuführen, was einen geschätzten Produktionsausfall von 20,5 Milliarden Euro zur Folge hat.1
Unterweisungen im richtigen Heben und Tragen sind zwar wichtig, können aber das Problem nur bedingt lösen. Insbesondere bei schweren Gewichten oder lang andauernden Belastungen. Wo technische Lösungen – Automatisierung durch Roboter beispielsweise – nicht möglich sind, müssen andere Wege gefunden werden.
Eine Option: Exoskelette. Diese sogenannten Wearables – also Assistenzsysteme, die am Körper getragen werden – entlasten den Nutzer bei bestimmten Tätigkeiten. Beim Bücken, Heben und Tragen kann das eine Exoskelett den Lendenwirbel entlasten, ein anderes bei Überkopfarbeiten die Schultern, Arme und den oberen Rücken. Beispiel: Ein Lagerarbeiter, der 20 Kilogramm schwere Kisten transportieren muss. Das Gewicht spürt er zwar noch in seinen Armen, aber nicht mehr im Rücken.
Aktive und passive Systeme im Vergleich
Es gibt Exoskelette als passive und aktive Systeme. Die passiven Exoskelette speichern die eingesetzte Energie – meist mit Federsystemen – und geben sie bei Bedarf wieder ab. Bückt sich ein Exoskelett-Nutzer zu einer Kiste, wird die Energie gespeichert, beim Heben wird sie freigegeben. Aktive Exoskelette funktionieren mit einer Antriebseinheit, etwa einem Elektromotor. Passive Exoskelette sind etwas leichter und günstiger in der Anschaffung, aktive lassen sich über die Steuerung des Motors genauer an den Nutzer anpassen.
Die neueste Entwicklung im Bereich der „Roboteranzüge“: Dank KI werden sie smart. Hersteller German Bionic hat zum Beispiel mit dem Apogee ein solches Exoskelett für den Einsatz im industriellen Bereich und in der Pflege auf den Markt gebracht. „Die Besonderheit unseres Exoskeletts ist, dass die Steuerung der Motoren extrem genau funktioniert. Wir können die Bewegungen des Nutzers präzise nachempfinden und auf die Feinheiten der individuellen Bewegungsabläufe eingehen“, erklärt Produktleiterin Norma Steller, die maßgeblich an der Entwicklung des Apogees mitgewirkt hat.
Sensoren geben Signal an die Motoren
Das Exoskelett wird ähnlich wie ein Rucksack auf dem Rücken getragen, an Brust, Hüfte und zusätzlich an den Beinen befestigt. Zwei Elektromotoren befinden sich auf Hüfthöhe. Die Funktionsweise beschreibt Norma Steller so: „Sensoren erfassen die Bewegung des Trägers und des Exoskeletts. Die Motoren erhalten daraufhin ein Signal, wie viel Drehmoment – wie viel Unterstützungsleistung also – sie aufbringen müssen, um den Nutzer beim Heben und Tragen zu entlasten.“
Wichtig zu wissen: Der Mensch, der das Hilfsmittel trägt, hat immer die volle Kontrolle. „Ein Exoskelett wird sich niemals allein steuern“, erklärt Norma Steller und veranschaulicht: „Man kann sich das so vorstellen wie ein Assistenzsystem beim Autofahren. Im Hintergrund läuft eine KI, die Empfehlungen gibt und mich quasi in der Spur hält.“
Ein Beispiel: Die Ermüdung während der Schicht nimmt der Mensch selbst erst spät wahr. Gerade das kann aber zu Unfällen und Verletzungen führen. Zum einen beim Heben und Tragen, zum anderen aber auch durch typische SRS-Unfälle (Stolpern, Rutschen, Stürzen). Die KI registriert die Ermüdung hingegen viel früher. Das Exoskelett zeigt seinem Nutzer auf dem Display, das an der Hüfte angebracht ist, Empfehlungen an: Streck dich mal! Geh mal aus der Stresshaltung raus! „Wie eine Art Kollege, der mir Hinweise gibt und den ich immer bei mir habe“, führt die Entwicklungschefin von German Bionic aus.
KI gibt Empfehlungen für individuelle Einstellungen
Das tragbare Assistenzsystem lässt sich für verschiedenste Tätigkeiten in unterschiedlichen Branchen und für jeden einzelnen Nutzer konfigurieren. Dabei geht es um mehr als Größe und Gewicht. Auf die Frage „Wie soll die Kraftkurve im ersten Drittel deiner Hebelbewegung für dich eingestellt sein?“ wird der Nutzer keine Antwort haben. „Das ist auch zu technisch, um es in einem Gespräch oder durch Beobachtung herausfinden zu können“, sagt Norma Steller. Da kommt die KI ins Spiel. Sie erhebt Daten und berechnet, wie die ideale Kraftkurve für den jeweiligen Exoskelett-Nutzer aussieht. Er entscheidet dann, ob er die veränderten Einstellungen annimmt, und gibt anschließend ein Feedback, durch das die KI lernt und weitere Anpassungen vornimmt.
Die Informationsvermittlung spielt für German Bionic eine wichtige Rolle. Deswegen zeigt das Apogee im Display zum Beispiel an, welche Einstellungen es gerade verwendet und um wie viel Kilogramm das Assistenzsystem seinen Träger entlastet. „Es geht schließlich um die Gesundheit und da setzen wir auf die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine – wobei sich das Exoskelett sowieso mehr als Partner denn als Maschine präsentiert. Aus meiner Sicht ist das Miteinander essenziell, um die Arbeitnehmer mitzunehmen.“
Elefanten veranschaulichen den Präventionseffekt
Als Hersteller von Exoskeletten geht es für German Bionic darum, Vertrauen in die Technologie aufzubauen und den Nutzen für die Prävention herauszustellen. „Wenn Menschen nicht unmittelbar betroffen sind, ist es schwieriger zu vermitteln als bei Menschen, die zum Beispiel schon Rückenprobleme haben oder hatten“, sagt Norma Steller. „Wir versuchen, den Präventionseffekt für den Einzelnen greifbar zu machen: So sieht dein Sicherheitslevel mit und so ohne Exoskelett aus.“ Auf dem Display wird beispielsweise das Gewicht, das während der Schicht durch das Exoskelett kompensiert wurde, sehr anschaulich angezeigt – in Elefanten oder Kleinwagen. Das kommt gut an, wie das Kundenfeedback zeigt: Die Nutzer würden den Einsatz des hochwertigen Equipments als Wertschätzung und Aufwertung ihrer Tätigkeit empfinden.
Problematisch kann die Erwartungshaltung der Unternehmen sein, die Exoskelette einsetzen wollen. Denn es geht eben nicht darum, dass Beschäftigte statt einer Kiste plötzlich drei auf einmal tragen können. „Das würde ja den Gedanken des Arbeitsschutzes konterkarieren“, sagt Norma Steller. Stattdessen zielt ein Exoskelett darauf ab, Arbeitsausfälle durch Muskel-Skelett-Erkrankungen und die Ermüdung der Arbeiter zu reduzieren. „Damit ist nicht gemeint, dass sie länger arbeiten können“, stellt sie klar. „Sondern, dass sie während der Schicht länger leistungsfähig bleiben und am Ende ihres Arbeitstags nicht komplett ausgebrannt sind.“ Ein Exoskelett könne somit die Lebensqualität der Beschäftigten erhöhen, weil sie mehr Energie für ihr Privatleben hätten.
Langzeitstudien fehlen allerdings noch für die recht junge Technologie. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA arbeitet daran, dass objektive Standards für die Wirkung von Exoskeletten festgelegt werden können. Auch andere Einrichtungen wie das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) forscht zu Chancen und Risiken von Wearables. „In bestimmten Fällen können Exoskelette um bis zu 20 Prozent entlasten“, sagt Omar El-Edrissi-Hörmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sachgebiet Muskel-Skelett-Belastungen. Kurz zusammengefasst: „Wenn man Lasten vom Boden hebt, wirken Exoskelette gut. Wenn man das Lastgewicht in Hüfthöhe hat, unterstützen sie praktisch nicht mehr.“ Potenzial sieht El-Edrissi-Hörmann dennoch – erst recht, wenn die Technik, die die Kraftübertragung reguliert, verfeinert wird.
Exoskelette als Antwort auf den Fachkräftemangel
Exoskelette können in gewissem Maße eine Antwort auf den Fachkräftemangel sein. Zwar ersetzen sie keine Arbeitskräfte, die in Rente gehen, und sie machen körperlich belastende Tätigkeiten auch nicht attraktiver. Sie können aber dazu beitragen, dass Beschäftigte länger gesund bleiben und nicht vorzeitig in Ruhestand gehen oder den Beruf wechseln müssen.
Ein sensibles Thema ist der Datenschutz. Wie jede KI benötigt auch das Apogee Informationen, um dazuzulernen und seine Funktionen zu verbessern. Das Sammeln dieser Daten erfolge anonymisiert, einzelne Mitarbeiter seien nicht identifizierbar, betont Steller: „Wir erheben und verarbeiten keine personenbezogenen Daten.“ Die Informationen, die das Exoskelett sammelt, könnten auch nicht zur Leistungskontrolle der Beschäftigten missbraucht werden. Es sei nicht ersichtlich, ob der eine Mitarbeiter in der gleichen Zeit wie der andere Mitarbeiter 30 Kisten weniger gehoben habe.
Datensammlung hilft Unternehmen beim Arbeitsschutz
Dennoch können die anonymisierten Daten zur Verbesserung des Arbeitsschutzes beitragen. Denn sie beugen dem Laboreffekt vor: Unter Beobachtung verhalten sich die Beschäftigten anders, als wenn sie unbeobachtet sind. Am Tag der Unterweisung bückt sich der Lagerarbeiter aus unserem Beispiel vielleicht noch vorbildlich nach der 20-Kilo-Kiste, richtet sich auf, hebt sie an, dreht sich und trägt sie an ihren Platz. Ganz ergonomisch. Kurze Zeit nach der Unterweisung lässt er die Arbeitssicherheit möglicherweise etwas schleifen und dreht sich schon beim Anheben der Kiste, weil es schneller geht. Solche „Abkürzungen“ münden häufig in Verletzungen. Das Exoskelett warnt, wenn er sich unergonomisch bewegt.
„Ein Exoskelett ist ein wichtiges Werkzeug in einem Werkzeugkasten von Maßnahmen, um Arbeitsplätze sicherer und gesünder zu machen“, sagt Norma Steller. „Es hilft – nach einer Schulung – von der ersten Minute an, wirkt also unmittelbar und kurzfristig.“ Und: Es ist flexibler und kostengünstiger als Vollautomatisierung mithilfe von Robotern. „Hybride Automatisierung“ hat German Bionic die Verbindung der menschlichen Kreativität zur Prozessverbesserung und der intelligenten Kraftunterstützung durch die „Roboteranzüge“ getauft.
Neue Anwendungsmöglichkeiten sind wahrscheinlich
Norma Steller erwartet, dass der Anteil der aktiven Exoskelette in Zukunft zunehmen wird. „Wir werden diese Systeme nicht nur im Industrieeinsatz sehen, sondern auch im privaten Bereich“, lautet ihre Prognose. Exoskelette, die beim Skifahren oder Wandern unterstützen zum Beispiel. „Also quasi die Idee des E-Bikes weitergedacht.“ Außerdem werde das Hilfsmittel immer kleiner und leichter, sodass es in den nächsten Jahren möglich sein dürfte, Exoskelette direkt in die Kleidung zu integrieren. Das könnte auch für den Arbeitsschutz neue Anwendungsmöglichkeiten eröffnen.
Einordnung Exoskelette
Exoskelette sind zwar technische Assistenzsysteme, die aber als personenbezogene beziehungsweise personengebundene Maßnahme verwendet werden. Sie sollten in der Maßnahmenhierarchie dem TOP-Prinzip gemäß erst dann zum Einsatz kommen, wenn technische oder organisatorische Schutzmaßnahmen nicht möglich oder nicht ausreichend sind. Die sicherheitstechnischen Maßnahmen richten sich nach dem Einsatzzweck und sind noch nicht eindeutig geregelt. Ergibt eine Gefährdungsbeurteilung eine deutlich erhöhte körperliche Belastung am Arbeitsplatz, können Exoskelette zur Reduzierung der Belastung gemäß PSA-Verordnung als persönliche Schutzausrüstung (PSA) eingestuft werden. Sollen sie den Komfort am Arbeitsplatz verbessern oder körperliche Belastungen weiter reduzieren, gelten sie als technisches Hilfsmittel und die Maschinenrichtlinie greift. Die Tendenz geht derzeit dahin, dass die praktische Verwendung des jeweiligen Exoskeletts vom Hersteller als „bestimmungsgemäße Verwendung“ ausgewiesen werden sollte. Entscheidet sich ein Unternehmen für den Einsatz von Exoskeletten, muss es für den Arbeitsplatz in jedem Fall eine Gefährdungsbeurteilung vornehmen. Ein Muster dafür hat das Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) erstellt. Zur PDF-Datei
¹ Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Arbeitswelt im Wandel – Zahlen, Daten, Fakten (2023)