Risikowahrnehmung ist eine Kulturfrage

Sicherer Umgang mit Gefahrstoffen

„Et hätt noch emmer joot jejange“, pflegen die Kölner zu sagen. Für manche Alltagssituationen mag dieser Ausdruck der Gelassenheit seine Berechtigung haben – für den Umgang mit Gefahrstoffen gilt das nicht. Wie sicher oder unsicher sich die Beschäftigten verhalten, hängt entscheidend mit der Sicherheitskultur im Unternehmen zusammen.

Text: Stefan Ganzke

AUF DEN PUNKT:

  • Beschäftigte blenden Risiken im Umgang mit Gefahrstoffen in der betrieblichen Praxis häufig aus
  • Um unsicheres Verhalten zu reduzieren, kommt Führungskräften eine wichtige Rolle zu
  • Ein offener Umgang mit Fehlern und die Beteiligung aller Beschäftigten beeinflussen die Sicherheitskultur positiv

Kurz vor Beginn der Weihnachtszeit kam es in der Produktionshalle eines Chemieunternehmens zu einem unkontrollierten Austritt eines Gefahrstoffs, der unter anderem als krebserzeugend eingestuft ist. Ein Mitarbeiter wurde mit dem Gefahrstoff kontaminiert und musste mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht werden. Beim Eintreffen der örtlichen Feuerwehren hatte sich der Gefahrstoff bereits über den gesamten Fußboden der Produktionshalle verteilt. Die Einsatzkräfte arbeiteten mehrere Stunden unter Chemikalienschutzanzügen daran, den Gefahrstoff sachgerecht aufzunehmen und die Gefahrenlage zu entschärfen. Um solche oder ähnliche Arbeitsunfälle sowie Umweltereignisse in einem Unternehmen zu vermeiden, sind sichere und gesunde Arbeitsbedingungen unerlässlich.

Rechtliche Regelungen

Für die Einführung und den Umgang mit Gefahrstoffen gelten in Deutschland zahlreiche rechtlich verbindliche Vorgaben sowie Regelungen mit empfehlendem Charakter. Die Grundlage bildet die Gefahrstoffverordnung (GefStoffV). Sie verpflichtet Arbeitgeber, die von Gefahrstoffen ausgehenden Risiken zu ermitteln, zu bewerten und – falls erforderlich – geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) konkretisieren die Anforderungen der Gefahrstoffverordnung und unterstützen Unternehmen bei der gezielten Umsetzung von Schutzmaßnahmen. Bei der Bewertung und Auswahl von Schutzmaßnahmen ist die STOP-Reihenfolge maßgeblich:

  1. Substitution: Zunächst muss geprüft werden, ob der Gefahrstoff durch einen weniger gefährlichen Stoff ersetzt werden kann.
  2. Technische Maßnahmen: Falls eine Substitution nicht möglich ist, sind technische Schutzmaßnahmen, wie zum Beispiel Absauganlagen, vorrangig.
  3. Organisatorische Maßnahmen: Ergänzend dazu sollten organisatorische Maßnahmen wie die Begrenzung der Expositionszeit umgesetzt werden.
  4. Personenbezogene Maßnahmen: Erst als letzte Maßnahme greifen personenbezogene Schutzmaßnahmen, wie das Tragen von persönlicher Schutzausrüstung (PSA).

Trotz der eindeutigen Regelungen kommt es in vielen Unternehmen zu unsicheren Entscheidungen und Handlungen im Umgang mit gefährlichen Stoffen. In den meisten Fällen verhindert das sogenannte Glücksprinzip, dass solche Fehlentscheidungen zu schweren Arbeitsunfällen oder Umweltereignissen führen. Doch wie schnell dieses Prinzip an seine Grenzen stößt, wurde am Beispiel des Chemieunternehmens zu Beginn des Beitrags deutlich.

Ein rechtskonformer und sicherer Umgang mit Gefahrstoffen ist nicht nur eine Frage der Sicherheitsstandards, sondern auch der Sicherheits- und Unternehmenskultur. Die Bradley-Kurve, ein bekanntes Reifegradmodell, verdeutlicht, u­nter ­welchen Voraussetzungen Führungskräfte und Beschäftigte dazu neigen, nachlässiger mit Gefahrstoffen umzugehen – sei es bei der Einführung, der Nutzung oder der Lagerung.

Ein beschriftetes Diagramm der Bradley-Kurve stellt vier Motivationsstufen gegenüber; links hoch ansteigende blaue Fläche „Reaktiv“, gefolgt von „Abhängig“, rechts hellblaue Flächen „Unabhängig“ und „Wechsel-beziehung“, getrennt durch eine gepunktete Linie.
Grafik: Liebchen+Liebchen

Viele mittelständische Unternehmen und Konzerne befinden sich noch in einer regelorientierten Kulturphase. Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass Teile des Managements und einige Führungskräfte erkannt haben, dass Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten vermeidbar sind. Auf der operativen Führungsebene oder bei den Mitarbeitern sieht die Realität jedoch häufig anders aus: Schutzmaßnahmen werden oft als übertrieben wahrgenommen, Arbeits- sowie Gesundheitsschutz gelten vielfach als notwendiges Übel und werden mitunter nicht eingehalten.

Die betriebliche Praxis

Beispiele: Beim Umfüllen von Gefahrstoffen benutzen die Beschäftigten nur selten Schutzbrillen. Das konsequente Tragen von langen Arbeitsschutzjacken und -hosen im Sommer bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Ausnahme. Brennbare Gefahrstoffe werden in ungeeigneten Räumen gelagert oder das Zusammenlagerungsverbot wird nicht eingehalten.

Doch nicht nur in Produktions- und Lagerbereichen wird der Umgang mit Gefahrstoffen teilweise zu locker gehandhabt. Ein Blick in die Laboratorien der Forschung und Entwicklung zeigt ähnliche Defizite: Gebinde mit Gefahrstoffen sind nicht oder nur unzureichend gekennzeichnet, Absaugeinrichtungen werden nicht konsequent genutzt. Auch wird das Substitutionsverfahren, das eine zen­trale Rolle bei der Minimierung von Gefährdungen spielt, häufig nicht durchlaufen.

Die individuelle Risikowahrnehmung verändern

Im Normalfall möchten Menschen während der Arbeit mit Gefahrstoffen weder sich selbst noch ihre Kolleginnen und Kollegen verletzen. Doch in der Praxis zeigt sich häufig ein anderes Bild: So kann es vorkommen, dass eine Führungskraft brennbare Stoffe aus Zeitgründen außerhalb geeigneter Lager abstellen lässt oder ein Mitarbeiter eine Probe eines Gefahrstoffs „mal eben schnell“ ohne Schutzhandschuhe entnimmt. Diese Verhaltensweisen hängen eng mit der individuellen Wahrnehmung von Risiken zusammen. Menschen, die in ihrer Freizeit regelmäßig Bungee-Jumping von Brücken machen, haben wahrscheinlich eine höhere Affinität zu Sicherheitsmaßnahmen als jene, deren risikoreichstes Hobby das Schneiden von Rosen im eigenen Garten ist. Die menschliche Wahrnehmung wird in Summe durch vier Faktoren maßgeblich geprägt. Hierzu zählen das kulturelle Umfeld, das soziale Umfeld, das familiäre Umfeld und die Erfahrungen, die ein Mensch bei seinen Entscheidungen und Handlungen sammelt.

Unternehmen haben entsprechend die Aufgabe, an der Wahrnehmung zu arbeiten. In der Regel ist das nur durch Erfahrungen und das soziale Umfeld am Arbeitsplatz möglich.

Eine Veränderung der Erfahrungen und des sozialen Umfelds am Arbeitsplatz erfordert einen Wandel der Sicherheitskultur – weg von einer regelorientierten Kultur hin zu einer sozialen Kultur des Miteinanders. Ein solcher Kulturwandel lässt sich jedoch nicht durch Einzelmaßnahmen erreichen. Die Zusammenhänge innerhalb einer Organisation sind schlichtweg zu komplex und dynamisch. Wenn ein Mitarbeiter beispielsweise einen Gefahrstoff im falschen Lager abstellt, mag dies auf Bequemlichkeit zurückzuführen sein. Häufiger jedoch liegen die Ursachen in unklaren Prozessen oder unpassenden Strukturen.

Die Werte des Unternehmens prägen die Überzeugungen und Verhaltensweisen der Beschäftigten maßgeblich – und damit auch den Umgang mit Sicherheit. Umso wichtiger ist es, von Anfang an eine ganzheitliche Sicherheitskultur-Strategie zu entwickeln. Diese sollte einen praxistauglichen Maßnahmenplan enthalten, um sicherzustellen, dass die richtigen Menschen im Unternehmen zur richtigen Zeit an den richtigen Aufgaben arbeiten.

Führungskräfte müssen Vorbild sein

Bei einem ungeplanten Rundgang durch eine Farben- und Lackproduktion beobachtete eine Fachkraft für Arbeitssicherheit aus der Ferne, wie ein Bereichsleiter neben einem Mitarbeiter stand, der gerade an einer Lösemitteltankanlage einen Gefahrstoff in einen Edelstahlrollwagen füllte. Weder der Bereichsleiter noch der Mitarbeiter trugen eine Schutzbrille. Auf die Situation angesprochen, setzte der Arbeiter seine Schutzbrille auf – der Bereichsleiter jedoch hatte keine Brille dabei. Das zeigt: Wenn Führungskräfte selbst die Sicherheitsvorgaben nicht einhalten, kann dies dazu führen, dass auch die anderen Beschäftigten weniger ­achtsam werden. Deshalb ist es entscheidend, dass eine Sicherheitskultur-Strategie alle Akteure im Unternehmen einbezieht.

Besonders die Führungskräfte spielen hierbei eine zentrale Rolle. Sie sind nicht nur Vorbilder, sondern auch Multiplikatoren für sicherheitsbewusstes Verhalten. Oftmals erfordert dies eine gezielte Arbeit an der Einstellung beziehungsweise dem Safety Mindset sowie an der Befähigung, Risiken richtig einzuschätzen und Sicherheit aktiv vorzuleben und zu fördern. Zur Befähigung zählt beispielsweise, wie die Beschäftigten in Gesprächen, bei Unterweisungen oder Begehungen angesprochen und erreicht werden.

Akzeptanz bei den Mitarbeitern erhöhen

Damit Mitarbeiter immer und konsequent die erforderliche PSA tragen, bedarf es einer Weiterentwicklung der bisherigen Wahrnehmung und Herangehensweise. Es reicht nicht aus, sich allein auf Unterweisungen und Betriebsanweisungen zu verlassen. Um die Akzeptanz und Achtsamkeit der Belegschaft zu erhöhen, ist eine regelmäßige und praxisnahe Kommunikation über den sicheren und gesunden Umgang mit Gefahrstoffen unerlässlich.

Ein bewährter Ansatz ist die Integration von Sicherheitskurzgesprächen in den Arbeitsalltag. Diese Gespräche bieten die Möglichkeit, Mitarbeiter aktiv zum Nachdenken über Risiken und sichere Verhaltensweisen am Arbeitsplatz zu motivieren. Als besonders effektiv hat sich hierbei die Anwendung von systemischen Fragestellungen erwiesen. Diese Methode fordert Mitarbeiter dazu auf, eigenständig Lösungen zu entwickeln und Risiken bewusster wahrzunehmen.

Einen offenen Umgang mit Fehlern fördern

Menschen sind nicht perfekt – statistisch machen sie zwischen drei und fünf Fehler pro Stunde. Oft handelt es sich dabei um harmlose Versprecher oder ähnliche Kleinigkeiten. Doch manchmal führen unsichere Handlungen zu schwerwiegenderen Folgen. Umso wichtiger ist es, angemessen mit solchen Fehlern umzugehen.

Kontraproduktiv ist ein Ansatz, der auf Bestrafung basiert – wie das sofortige Abmahnen oder Bloßstellen eines Mitarbeiters vor Kollegen, etwa wegen einer versehentlichen falschen Lagerung eines Gefahrstoffs. Solche Maßnahmen führen lediglich dazu, dass Fehler verschleiert werden und eine hohe Dunkelziffer an Arbeitsunfällen, unsicheren Situationen und Umweltereignissen entsteht. Zentraler Bestandteil eines erfolgreichen Kulturwandels ist daher ein offener und ehrlicher Umgang mit Fehlern. Dieser Ansatz ermöglicht es Führungskräften, die Ursachen für Fehlverhalten zu verstehen und gegebenenfalls fehlerhafte Prozesse oder Strukturen zu identifizieren. So können nicht nur individuelle Fehlerquellen behoben, sondern auch systemische Verbesserungen erzielt werden.

Unsicheres Verhalten ansprechen

Grundsätzlich gilt: Nicht zu reagieren bedeutet, Verhalten zu bestätigen. Fährt beispielsweise ein Gabelstapler beim Transport zu schnell oder eine Führungskraft verzichtet bei der Einführung eines neuen Rohstoffs mit Gefahrstoffkennzeichnung auf das Substitutionsverfahren, müssen Konsequenzen folgen. Ansonsten wird dieses Verhalten stillschweigend akzeptiert und unsicheres Handeln toleriert. Umso wichtiger ist es, dass sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeiter unsichere Situationen erkennen und den Mut aufbringen, diese offen anzusprechen, anstatt wegzusehen.

Beteiligung der Akteure im Unternehmen

Ein Kulturwandel hin zu einer sozialen Kultur des Miteinanders kann nur gelingen, wenn die Akteure im Unternehmen aktiv einbezogen werden. So ist die Beteiligung von Mitarbeitern beispielsweise bei der Beschaffung von neuen Maschinen, wie Abfüllanlagen, oder bei der Auswahl von PSA essenziell. Die Beteiligung kann in Arbeitsschutzgremien erfolgen, durch das direkte Gespräch mit den Beschäftigten oder durch Umfragen. Es gilt der Grundsatz: Je gezielter eine Beteiligung erfolgt, desto mehr Mitstreiter gibt es für den Arbeits- und Gesundheitsschutz.

DER AUTOR:

Stefan Ganzke ist zusammen mit Anna Ganzke Gründer und Geschäftsführer der WandelWerker Consulting GmbH. Gemeinsam mit ihrem Team unterstützen die beiden mittelständische Unternehmen und Konzerne dabei, Arbeitsunfälle kontinuierlich und nachhaltig zu senken sowie eine gelebte Arbeitsschutzorganisation zu entwickeln.
www.wandelwerker.com