Wenn die innere Uhr anders tickt

Sozialer Jetlag

Ohne Wecker ausschlafen können – für die meisten Menschen ist das im Arbeitsleben ein Wunschtraum und höchstens am Wochenende möglich. Dabei wäre es auch für die Arbeitgeber sinnvoll, ihre Beschäftigten auf deren innere Uhr hören zu lassen. Sonst droht der „soziale Jetlag“.

Text: Holger Schmidt (Redaktion)

Ein kleines Gedankenspiel: Sie leben in Berlin, Hamburg oder München, müssen aber in Istanbul arbeiten. Wenn Ihr Dienst also um 9 Uhr Ortszeit in der Türkei beginnt, ist es in Deutschland erst 7 Uhr. Für Frühaufsteher kein Problem. Für Menschen, die als Nachteulen gelten, dagegen schon. Oder – noch extremer – Sie leben in Köln, Frankfurt oder Essen, Ihr Arbeitgeber richtet sich allerdings nach der Zeit in New York. Bedeutet: Sie fangen erst um 15 Uhr deutscher Zeit mit der Arbeit an und haben entsprechend um 23 Uhr Feierabend. Jeden Tag. Die Eulen unter uns freut’s. Für die Lerchen, deren Leistungsfähigkeit schon am frühen Nachmittag abnimmt, ist das eine Horrorvorstellung.

Diese Szenarien kommen häufiger vor, als Sie denken. Und das hat nichts mit der Digitalisierung und den Möglichkeiten zu tun, überall in der Welt und jederzeit aus dem Homeoffice arbeiten zu können. Vielmehr hängt es mit der inneren Uhr zusammen, die sich bei jedem von uns unterscheidet. Deshalb fühlt es sich für manche Menschen so an, als würden sie in der falschen Zeitzone leben. 9 Uhr empfinden die einen so, als wäre es 7 Uhr, die anderen, als wäre es 15 Uhr. Die biologische, innere Uhr und die soziale Uhr – die Uhr also, an der man bestimmte gesellschaftliche Pflichten wie Arbeiten ausrichten muss – befinden sich nicht im Einklang.

AUF DEN PUNKT

  • Sind innere und soziale Uhr nicht im Einklang, hat das Auswirkungen auf die Gesundheit
  • Schlafprobleme, Konzentrationsschwächen und sinkende Leistungsfähigkeit: Auswirkungen ähneln denen eines Jetlags
  • Typ Lerche oder Eule? Anpassung der Arbeitszeit bringt Vorteile für Beschäftigte und Arbeitgeber

Die biologische Uhr lässt sich nur schwer umstellen

Der Chronobiologe Professor emeritus Till Roenneberg, der Jahrzehnte an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrte, bezeichnet dieses Phänomen als „sozialen Jetlag“. Denn die Auswirkungen sind ähnlich wie bei Flugreisen in ferne Länder – Schlafprobleme, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Müdigkeit und Erschöpfung. Mit dem Unterschied, dass sich die innere Uhr bei Fernreisen an die neuen Zeiten und den Tag-Nacht-Rhythmus anpasst. Wer sich in Deutschland am wohlsten damit fühlt, um Mitternacht ins Bett zu gehen und bis 8 Uhr zu schlafen, wird das also auch in den USA oder auf Bali nach ein paar Tagen machen – sofern es keine Verpflichtungen gibt, die dagegensprechen.

Grafische Darstellung: Liebchen+Liebchen GmbH

Der soziale Jetlag hingegen bleibt chronisch, da die biologische Uhr sich nur durch einen neuen Tag-Nacht-Rhythmus umstellt, wir aber nicht verreisen. Frühtypen, also den Lerchen, wird es nie leichtfallen, lange wach zu bleiben. Bis 10 Uhr zu schlafen, liegt nicht in ihrer Natur. Spättypen, also die Eulen, werden früh am Morgen nicht ausgeschlafen sein, weil sie vor beispielsweise 1 oder 2 Uhr gar nicht einschlafen können. Beiden Typen schadet es langfristig gesundheitlich, wenn sie gegen die innere Uhr leben und arbeiten müssen.

Die „Tauben“ sind in der Mehrheit

„Die innere Uhr hat einen biologischen ‚Apparat‘ hinter sich, der an Gene gebunden ist. Sobald Gene im Spiel sind, gibt es auch Variationen“, erklärt Roenneberg und veranschaulicht: „So wie es sehr groß gewachsene und sehr klein gewachsene Menschen gibt, gibt es als Extreme auch die frühen Lerchen und die späten Eulen.“ Allerdings: Diese Typen sind sehr selten, „denn ihr Chronotypen ist so verteilt wie bei allen anderen biologischen Eigenschaften auch, die auf Genen beruhen“. Die Verteilung der Chronoytpen entspricht einer Glockenkurve (siehe Abbildung). Die meisten Menschen gehören einem Typus an, den Roenneberg „Tauben“ getauft hat, um sie von den Lerchen und Eulen abzugrenzen.

Die Arbeitswelt ist an den Lerchen ausgerichtet. Das ist historisch begründet und geht auf die Zeit noch vor der Indus­trialisierung und Urbanisierung zurück. Damals gab es tagsüber viel und nachts wenig Licht. Und Menschen brauchen nun einmal als tagaktive Organismen Licht. „Wären wir Igel oder Füchse, könnten wir nachts auch ohne zurechtkommen“, veranschaulicht Roenneberg.

„Jetzt ist es so, dass wir einfach das elektrische Licht einschalten und so tun, als ob noch Tag wäre, wenn es draußen dunkel ist. Wir haben nicht nur das Tageslicht verdrängt, sondern auch die Dunkelheit.“ Die Gesellschaft hat also den wichtigsten Zeitgeber, das Tageslicht, so stark abgeschwächt, dass unsere inneren Uhren Schwierigkeiten haben, sich mit dem 24-Stunden-Rhythmus zu synchronisieren. Die Konsequenz: „Fast alle Chronotypen mussten sich gegenüber dem Licht-Dunkel-Rhythmus verschieben – die Lerchen sind noch früher geworden, die Tauben und Eulen später.“ Lagen die frühen Lerchen und die späten Eulen früher nur vier Stunden auseinander, sind es heute zwölf Stunden – ein halber Tag. Das ist laut Roenneberg auch der Grund, warum sich mehr als 80 Prozent der Menschen einen Wecker stellen müssen. Die inneren Uhren seien nicht mehr früh genug dran, um mit den sozialen Verpflichtungen und Gepflogenheiten zurechtzukommen.

Chronotypen bestimmen

Der Chronotyp eines Menschen lässt sich zum Beispiel biochemisch durch die Messung von Melatoninwert oder durch die Analyse von Genen ermitteln. Eine einfachere und kostengünstigere Methode, die zu sehr ähnlichen Ergebnissen führt, ist die Auswertung von Verhaltensfragebögen. Für die Bestimmung des Chronotyps reicht es nicht aus, den Einschlafzeitpunkt zu betrachten – das Schlafbedürfnis unterscheidet sich individuell. Chronobiologen nehmen dafür die Schlafmitte. Beispiel: Wer um 23 Uhr ins Bett geht und sechs Stunden bis 5 Uhr schläft, hat seine Schlafmitte um 2 Uhr und gehört damit noch zu den Lerchen; wer um 23 Uhr ins Bett geht und zehn Stunden bis 9 Uhr schläft, hat seine Schlafmitte um 4 Uhr und gehört damit zu den Tauben.

Wer weit von seiner biologischen Zeitzone entfernt lebt, macht eher Fehler

Das hat auch Auswirkungen auf das Berufsleben. „Je weiter man von seiner biologischen Arbeitszeitzone entfernt lebt, desto größere Schwierigkeiten entstehen kognitiv und auch gesundheitlich“, sagt Roenneberg. So steige etwa die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu machen oder Verkehrsunfälle zu verursachen.

Das bedeutet auch: Arbeitgeber berauben sich selbst der Ressource Mitarbeiter oder sie schränken zumindest die Leistungsfähigkeit ihrer Beschäftigten ein, wenn sie beispielsweise Meetings zu früh ansetzen. Der Professor verweist als positive Gegenbeispiele auf Arbeitsmodelle, bei denen die Mitarbeiter bei voller Bezahlung nur sechs statt acht Stunden arbeiten müssten – aber dafür in ihrer eigenen biologischen Zeitzone. Sie schaffen das gleiche Pensum wie zuvor oder sind sogar noch effizienter: „Die Beschäftigten arbeiten kürzer, ich bekomme als Arbeitgeber trotzdem mehr heraus und senke gleichzeitig den Krankenstand immens. Es spricht also alles dagegen, als Arbeitgeber zu sagen: Ihr müsst alle um 8 Uhr hier sein!“

Erkenntnisse aus der Corona-Pandemie und der Arbeit aus dem Homeoffice stützen diese These. „Die Menschen konnten eher zu ihren biologischen Zeiten und daher auch länger schlafen. So konnten sie den sozialen Jetlag reduzieren“, fasst Roenneberg wissenschaftliche Untersuchungen zusammen. Das lag nicht nur an den Arbeitszeiten, die ja auch im Homeoffice aufgrund von Terminen nicht immer frei wählbar waren. „Das hatte auch etwas damit zu tun, dass der Arbeitsweg weggefallen ist und wir zumindest diese Zeit länger schlafen konnten.“

Experiment zum Schichtdienst bringt Lösungsansatz

Gleichwohl weiß Roenneberg natürlich, dass es eine Reihe von Berufen gibt, bei denen Anpassungen der Arbeitszeit schwieriger sind als etwa bei der Büroarbeit. Zum Beispiel in Hilfs- und Rettungsberufen oder in Industriebetrieben, wo ohne Pause produziert werden muss. „Schichtarbeit ist der GAU für die Gesundheit, da der soziale Jetlag bei Schichtarbeit besonders hoch ist“, erklärt Roenneberg. In einem Experiment bestimmten er und sein Team die Chronotypen der Belegschaft eines Stahl verarbeitenden Betriebs. An den Schichtplänen und der Präsenzquote nahmen die Forscher keine Änderungen vor. Stattdessen legten sie nur fest, dass Eulen nicht mehr zur Frühschicht und Lerchen nicht mehr zur Nachtschicht eingeteilt wurden. Ergebnis: „Alle haben eine Stunde pro Tag länger geschlafen, also fünf Stunden pro Woche. Alle fanden das sehr gut.“

Das Problem: Für die Dauer des Experiments zahlte das Unternehmen an alle Mitarbeiter die Nachtschichtzulage. Für eine Frühschichtzulage gibt es aber in Deutschland keine gesetzliche Regelung. Falsch verstandene Demokratie, findet Roenneberg. Denn die Frühschicht sei für die Spättypen genauso schlecht wie die Nachtschicht für die Frühtypen. „Das ist so, als würde ich den Mitarbeitern Sicherheitsschuhe zur Verfügung stellen – aber alle in derselben Größe“, verbildlicht Roenneberg. „Biologisch klug wäre es, dass man das Problem mit der Aufteilung der Schichten anhand der Chronotypen entschärft. Wir haben gezeigt, dass das die Lösung wäre.“ Allerdings müsse es dafür Gesetzesänderungen geben.

Drei Tipps …

für Menschen, die in der falschen biologischen Zeitzone arbeiten:

  1. Versuchen, den Beruf zu wechseln.
  2. Wenn man ihn nicht wechseln kann oder will, den Arbeitgeber dazu bringen, flexibler zu werden.
  3. Campen gehen.

Der dritte Punkt klingt etwas kurios, hat aber einen ernst gemeinten Hintergrund. „Man versucht mit Licht, sich als Eule früher oder als Lerche später zu machen“, erklärt Till Roenneberg. „Wenn Sie die heutige Stadtbevölkerung zum Campen mitnehmen, schrumpfen die Unterschiede zusammen. Wenn Sie als Camper zum Beispiel zu den Spättypen gehören, sind Sie nach einer gewissen Zeit nur noch ungefähr zwei bis drei Stunden später dran als die früheste Lerche.“

Alle Argumente und Erkenntnisse führen zu der einfachen Formel: Wer besser schläft, macht weniger Fehler. „Es ist eine Win-win-Situation, wenn Arbeitgeber sagen: ‚Komm bitte zur Arbeit, wenn du nicht mit dem Wecker aufgewacht bist‘“, führt Roenneberg aus. Er vergleicht das mit einer Waschmaschine, die eben auch ihre Zeit brauche, um ihr Programm zu durchlaufen. „Wenn ich sage ‚Das muss jetzt reichen‘ und die Maschine vorzeitig ausschalte, ist das Ergebnis eben nasse und schmutzige Wäsche. Und das machen wir mit unserem Schlaf, wenn wir vom Wecker aufwachen – wir brechen den Prozess ab.“

Schlaf, erläutert Roenneberg, sei ein aktiver Zustand unseres Daseins: „Viele Dinge werden auf der biochemischen Ebene gewartet und repariert.“ Ansonsten habe das langfristig auch Auswirkungen auf die Gesundheit: „Das ist wie bei einem Auto – wenn ich damit nie bei der Inspektion gewesen bin, kann ich es wahrscheinlich früher auf den Schrottplatz bringen als ein gut gewartetes Auto.“ Wie lange dieser Wartungsprozess dauert, wie lange ein Mensch also täglich schlafen sollte oder muss, ist individuell verschieden und hängt auch von der Schlafqualität ab. Wissenschaftliche Untersuchungen während der Corona-Pandemie legen aber den Schluss nahe, dass im Mittel achteinhalb Stunden ausreichen, so Roenneberg.

Der Chronobiologe plädiert dafür, dass die Arbeitszeiten auf den Prüfstand kommen und auf die jeweiligen Typen angepasst werden. „Wir denken in der Arbeitswelt noch wie im 19. Jahrhundert – dabei wissen wir inzwischen viel mehr.“ Zum Beispiel, dass ein sozialer Jetlag von 20 Minuten tolerierbar ist. Alles, was darüber hinaus geht, wird früher oder später problematisch. Und das können weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer wollen.