- Editorial
- Schwerpunkt
- Migration als Realität
- Kulturelle Vielfalt als Chance für den Arbeitsschutz
- Unternehmen in der Pflicht
- „Nicht mehr nur nice to have“
- Warum interkulturelle Kompetenz ein Sicherheitsfaktor ist
- Coaching für internationale Teams
- Risiken für migrantische Arbeitskräfte
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„Nicht mehr nur nice to have“
Umgang mit psychosozialen Belastungen

Foto: fotomek – stock.adobe.com
Psychosoziale Belastungen sind für viele Migrantinnen und Migranten keine Ausnahme – sondern Alltag. Sprachliche Barrieren, kulturelle Unterschiede und familiäre Sorgen gehören zu den Herausforderungen, die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bewältigen müssen. Unternehmen können sie dabei unterstützen und sollten dies im Interesse der ausländischen Beschäftigten, aber auch im eigenen Interesse tun.
Text: Laura Pollmann (Redaktion)
AUF DEN PUNKT:
- Psychosoziale Belastungen treffen Personen mit Fluchterfahrungen besonders stark
- Die größten Belastungen: Sprachbarrieren, Diskriminierung und fehlende soziale Unterstützung
- Betriebliche Prävention fördert die Integration beispielsweise durch Sprachförderung, interkulturelle Trainings, Peer-Programme und klare Strukturen
Anders als Lärm oder das Gewicht von Lasten lassen sich psychosoziale Belastungen nicht mit einem Gerät messen. Und doch sind sie da. Es handelt sich dabei um alle Einflussfaktoren auf psychischer und sozialer Ebene, die auf einen Menschen einwirken und Ressourcen beanspruchen.
Migrantinnen und Migranten stehen dabei vor besonderen Herausforderungen. „Es gibt eine Vielzahl von psychosozialen Belastungen, mit denen Personen mit Zuwanderungsgeschichte zu kämpfen haben“, sagt Dr. Katrin Boege vom Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IAG). Sie beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema Migration und Arbeitsschutz. Als eine der größten Belastungen sieht sie die Sprachbarrieren. Diese führen oft zu Einschränkungen von Kontakt und Kommunikation. Das Resultat: Missverständnisse und Isolation. Oder noch schlimmer: Sicherheitslücken, die zu schweren Arbeitsunfällen führen können. „Es kommen verschiedene Kulturen zusammen, die unterschiedliche Vorstellungen von Themen wie Arbeitssicherheit oder Partizipation haben“, führt Katrin Boege aus.
Unterschiede hinsichtlich der psychosozialen Belastungen zeigen sich auch innerhalb der Gruppe der Migranten. Aber es gibt eben auch Gemeinsamkeiten bei Menschen, die freiwillig nach Deutschland eingewandert sind, und Menschen mit Fluchterfahrung: Beide Gruppen sind oft mit Sprachbarrieren, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus konfrontiert, weiß Dr. Laura Nohr. Sie ist Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet seit drei Jahren an der Freien Universität in Berlin. Dort ist sie in der Arbeitsgruppe der transkulturellen klinischen Psychologie und der Psychotraumatologie tätig und beschäftigt sich mit Migrations- und Fluchterfahrungen und ihren Auswirkungen auf die betroffenen Personen. Für Personen mit Migrationsbiografie spiele besonders ihr Zugehörigkeitsgefühl eine große Rolle, weiß Nohr. „Sie bekommen oft gespiegelt, dass sie nicht dazugehören, unabhängig davon, ob sie in Deutschland geboren sind.“ Das stelle eine ganz eigene psychosoziale Belastung dar.
Unbewusste Diskriminierung

Der Faktor Sprache spielt eine Rolle beim Thema Diskriminierung – wenngleich diese häufig gar nicht absichtlich geschehe. „Oft wird die Diskriminierung in den Betrieben gar nicht aktiv wahrgenommen“, weiß Boege. „Es passiert eher unbewusst, dass man sich an die Kolleginnen und Kollegen wendet, die die eigene Sprache sprechen.“ Viele Beschäftigte würden auch mangelnde Sprachkenntnisse fälschlicherweise mit fehlendem fachlichem Verständnis verknüpfen. Wer dadurch weniger einbezogen wird oder das Gefühl hat, unterschätzt zu werden, empfindet dies als Ausgrenzung. Dies kann das Zugehörigkeitsgefühl verringern, zu Unsicherheit und Misstrauen führen – und letztlich Angst, psychischen Druck oder sogar Depressionen auslösen. In der Folge sinken sowohl die Leistungsfähigkeit als auch die Motivation.
Unabhängig davon, ob Diskriminierung bewusst oder unbewusst stattfindet, entscheidend sind die Verletzungen, die daraus entstehen können. Psychologin Nohr appelliert daher daran, unternehmerische Verantwortung zu übernehmen. Es sei wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Diskriminierungserfahrungen angesprochen werden können und in der gemeinsam nach Lösungen gesucht wird.
Die Menschen als Individuum
Zu einem sensiblen Umgang gehört es auch, Menschen nicht zu kategorisieren und in Schubladen zu stecken. „Personen mit Fluchterfahrung sollten nicht ständig das Gefühl bekommen, dass sie aufgrund ihrer Fluchterfahrung prinzipiell anders sind und anders behandelt werden“, betont Dr. Laura Nohr. Es handle sich um eine sehr heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Lebensrealitäten.
Ihr Rat: Unternehmen sollten versuchen, eine gute Mischung aus strukturell verankerten Maßnahmen und individuellem Umgang mit den Beschäftigten mit Fluchterfahrung zu finden. Strukturell lassen sich beispielsweise Repräsentanz auf allen Ebenen, Beratungsangebote, Anlaufstellen für Probleme und auch eine Kultur der offenen Kommunikation verankern. Individuell sei es jedoch bei jeder Person wichtig, die individuellen Stärken und Ressourcen zu sehen und bei Benachteiligung entsprechende Angebote zu schaffen. „Unternehmen müssen einen Blick dafür entwickeln, was die Menschen erlebt haben und welche Anstrengungen sie bereits hinter sich haben“, so Nohr. Für ein gesundes Arbeitsklima müssten Unternehmen bereit sein, beim Umgang mit Diversität diese „Extrameile“ zu gehen und echte unternehmerische Verantwortung zu übernehmen. “Psychische Gesundheit ist ein Menschenrecht“, betont Nohr. Psychische Probleme würden sich massiv auf die soziale Teilhabe und damit auch auf die Teilhabe am Arbeitsleben auswirken.
Das familiäre Netzwerk
Nicht nur im Betrieb werden Migrantinnen und Migranten mit Situationen konfrontiert, die sie zusätzlich belasten. Auch die familiären Begebenheiten können sich auf die Arbeitsleistung auswirken. Laut Boege habe familiärer Zusammenhalt in manchen Kulturen einen besonders hohen Stellenwert. Eine Befragung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) untermauert diese Einschätzung. 82,5 Prozent der geflüchteten Frauen und 66,9 Prozent der Männer äußern demnach ihre Gedanken und Gefühle ausschließlich gegenüber ihren Familienmitgliedern. Die Vertrauten außerhalb der Familie stammen meist aus demselben Land wie die Person selbst. So gaben laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 74,7 Prozent der geflüchteten Frauen an, enge Beziehungspersonen fast ausschließlich nur im Familienkontext zu haben. Bei den Männern wird eine „Beziehungsarmut“ deutlich: Sie stehen oft ohne jegliche enge Beziehungsperson dar. Die Auswirkungen bei Trennung von den Familienstrukturen laut Boege: Stress, geringe Arbeitszufriedenheit und psychische Probleme. Die IAG-Expertin betonte zudem, dass ein Mangel an sozialer Unterstützung und zwischenmenschlichen Beziehungen sogar zu einem Burnout führen kann.
Ein weiterer Faktor: Teilweise kommen Migrantinnen und Migranten in Städten an, in denen sie auf den gleichen Kulturkreis treffen oder in denen bereits andere Familienmitglieder leben. „Darunter kann dann aber die Integration in die deutsche Gesellschaft leiden. Das Risiko ist hoch, dass diese Personen eher langsam oder gar kein Deutsch lernen“, appelliert Boege.
Die Chancen für Betriebe
Dr. Katrin Boege empfiehlt, ein offenes und transparentes Umfeld und Raum für Austausch zu schaffen. Es sei wichtig, die Herausforderungen anzugehen, bevor gravierende Probleme für die Belegschaft entstehen. Gelingen könne das durch Schulungen, Sprachkurse und Sensibilisierung. Die Zielgruppe für diese Maßnahmen: Sowohl die Belegschaft als auch die Migrantinnen und Migranten.
Für Migranten sind Schulungen essenziell, die sie in das Unternehmen und die persönlichen Arbeitsabläufe einführen. Für die gesamte Belegschaft bieten sich interkulturelle Trainings oder auch Team- und Konfliktmanagement-Workshops an. So kann fachliche und kulturelle Integration gelingen und es wird ein Verhältnis auf Augenhöhe geschaffen. Die Sprachkurse hingegen richten sich hauptsächlich an die Einwanderinnen und Einwanderer, damit sie sich Deutschkenntnisse und berufsspezifisches Vokabular aneignen können. Bei den Kolleginnen und Kollegen ist es wichtig, eine Sensibilisierung für den Umgang mit diversen Teams zu fördern.

Für den Zusammenhalt zwischen den vorhandenen Kolleginnen und Kollegen und den Migrantinnen und Migranten empfehle sich beispielsweise eine Patenschaft oder Peers. Peers unterstützen Migrantinnen und Migranten beim Erlernen neuer Fähigkeiten. Die Personen sind gleichranging und helfen beim Erlernen von wichtigen Arbeitsroutinen. Dies steigert den Arbeitsschutz durch Sensibilisierung, aktive Unterstützung und zusätzliche Beratung. So fühlen sich alle Beschäftigten verantwortlich und es erfolgt eine sichere Einweisung der Fachkräfte aus dem Ausland in die Tätigkeiten.
Außerdem ist zu hinterfragen, ob das Unternehmen auch entsprechende Partner hat, um auf psychosoziale Belastungen reagieren zu können. Beauftragte für Diskriminierung oder Personen für psychosoziale Hilfe seien wichtige Ansprechpartner in einem Betrieb, so Boege. Das Thema Migration gesondert in der Gefährdungsbeurteilung aufzunehmen, sei aus ihrer Sicht nicht erforderlich. „Es ist aber wichtig, die Themen zu integrieren, die Migrantinnen und Migranten betreffen“, sagt die IAG-Expertin. Die größten Hürden – wie beispielsweise Sprachbarrieren – sollten aber in der Gefährdungsbeurteilung ‚Psychische Belastung‘ aufgegriffen werden.
Ein Blick in die Zukunft
Für Dr. Katrin Boege müssen Unternehmen ein größeres Augenmerk auf die Prävention von psychosozialen Belastungen legen. “Das darf nicht mehr nur ein ‚Nice to have‘ sein.“ Besonders in Hinblick auf den demografischen Wandel sei es wichtig, sich tiefgreifend mit dem Thema zu beschäftigen. Dazu gehöre es, die Bedürfnisse des eigenen Unternehmens und seiner Mitarbeitenden zu kennen.
„Die Arbeitswelt kann einen großen Beitrag zur sozialen Teilhabe von Menschen mit Fluchterfahrung leisten“, resümiert Dr. Laura Nohr. Dieses Engagement komme auch den Unternehmen selbst zugute: „Diverse Teams sind kreativer und erarbeiten bessere Lösungen. Gemeinsam können wir also in jeglicher Hinsicht gesamtgesellschaftlich profitieren.“