Die Vision der unfallfreien Arbeitswelt

Stellen Sie sich eine Arbeitswelt im Jahr 2050 vor, in der Arbeitsunfälle der Vergangenheit angehören. Diese Vision mag utopisch erscheinen. Insbesondere beim Betrachten der aktuellen Situation, in der Arbeitsunfälle – leider – zum Alltag gehören. Dennoch sollten wir uns die Frage stellen: Unter welchen Bedingungen kann ein solch fundamentaler Umbruch Wirklichkeit werden?

Text: Anja Blüthner und Thomas Büschel

AUF DEN PUNKT

  • Zusammenspiel aus technologischem Fortschritt und kulturellem Wandel hilft bei der Reduzierung von Arbeitsunfällen
  • KI unterstützt bei der Fehleranalyse
  • Aber: Automatisierung bedeutet für den Arbeitsschutz auch neue Herausforderungen

Eine Rückschau aus der Zukunft zeigt, dass Arbeitsunfälle in den 20er-Jahren unseres Jahrhunderts ein weit verbreitetes Problem waren. Statistiken führen auf, dass weltweit jährlich Millionen von Arbeitnehmern durch Unfälle verletzt wurden, was sowohl für die Betroffenen als auch für die Unternehmen erhebliche Kosten verursachte. Allein in Deutschland wurden im Jahr 2023 über 780.000 meldepflichtige Arbeitsunfälle registriert, die eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen zur Folge hatten. 381 dieser Unfälle endeten sogar tödlich. Allein diese Zahlen verdeutlichen, wie dringlich es zu dieser Zeit war, Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitssicherheit zu ergreifen.

Die Ursachen für diese hohe Unfallrate waren vielfältig. Fehlendes Sicherheitsbewusstsein und unzureichende Präventionsmaßnahmen traten ebenso häufig auf wie mangelnde Umsetzung bestehender Vorschriften. Besonders zahlreich wurden Unfälle durch Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten verzeichnet, die zu Muskel-Skelett-Erkrankungen führten. Bereits im Jahr 2020 wurde allein ein Viertel aller Arbeitsunfähigkeitstage durch eben diese Beeinträchtigungen verursacht.

Viele Belastungen für das Muskel-Skelett-System

Muskel-Skelett-Belastungen an Arbeitsplätzen waren vielfältig und umfassten unter anderem die manuelle Lastenhandhabung wie Heben, Halten, Tragen und Ziehen, das Schieben von Lasten und repetitive manuelle Tätigkeiten. Außerdem das Arbeiten in erzwungenen Körperhaltungen oder mit hohen Ganzkörperkräften, wie sie oft in der industriellen Produktion, im Gesundheitswesen, der Landwirtschaft, in Lager und Logistik oder im Bauwesen gang und gäbe waren. Diese Gemengelage aus notwendigen Tätigkeiten und dadurch verursachten Unfällen bzw. Erkrankungen erforderte dringend innovative Lösungen sowie einen rigorosen Wandel im Denken und Handeln aller Akteure.

Technologische Innovationen

Eine der bahnbrechenden technologischen Entwicklungen, die zur Reduzierung von Arbeitsunfällen beigetragen haben, sind Exoskelette. Diese tragbaren Assistenzsysteme unterstützen die natürliche Bewegung des Körpers und verringern die Belastung bei körperlich anstrengenden Tätigkeiten. Die Entwicklung begann mit einfachen Modellen in den frühen 2010er-Jahren und führte bis 2050 zu hoch ­entwickelten ­Versionen.

Exoskelette ermöglichen es den Arbeitnehmern, schwere Lasten sicher zu heben und zu tragen, wodurch Dauerbelastungen und Verletzungsrisiken erheblich reduziert werden. Durch die Unterstützung des Körpers bei schweren und sich wiederholenden Tätigkeiten tragen Exoskelette in verschiedenen Branchen wesentlich zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen bei und fördern eine gesündere und sicherere Arbeitsumgebung. Anwendungsgebiete:

  • In der Industrie und Fertigung helfen Exoskelette, schwere Werkzeuge zu handhaben und repetitive Bewegungen auszuführen.
  • Auf Baustellen unterstützen Exoskelette Bauarbeiter beim Heben und Tragen schwerer Materialien und stabilisieren den Körper.
  • In Lagern und Distributionszentren erleichtern Exoskelette das Heben und Transportieren von schweren Paketen.
  • Pflegekräfte profitieren von den Assistenzsystemen beim Heben und Umlagern von Patienten
  • Landwirte nutzen Exoskelette, um bei der Ernte und der Handhabung von landwirtschaftlichen Geräten unterstützt zu werden.

Automatisierte Transportsysteme

Ein weiterer Fortschritt lag im Einsatz automatisierter Transportsysteme. Fahrerlose Gabelstapler oder Transportdrohnen haben die manuelle Handhabung von Materialien und Produkten revolutioniert. Diese Systeme minimieren nicht nur das Risiko menschlicher Fehler, sondern optimieren auch Effizienz und Sicherheit am Arbeitsplatz. Durch den Einsatz solcher Technologien konnten viele Unfälle, die früher durch den Transport schwerer Güter verursacht wurden, nahezu eliminiert werden. Ihr zunehmender Einsatz zur Erledigung schwerer, repetitiver und körperlich belastender Aufgaben reduzierte in verschiedenen Bereichen das Gefährdungspotenzial für das Muskel-Skelett-System:

  • Fahrerlose Gabelstapler transportieren Materialien und Produkte in Produktionsanlagen, was die Notwendigkeit für manuelles Heben und Tragen schwerer Lasten komplett entfallen lässt.
  • In Lagern und Distributionszentren werden automatisierte bzw. selbstfahrende Transportsysteme eingesetzt, um Waren autonom zu bewegen. Dank geonavigierter Technologie transportieren fahrerlose Stapler Lasten autonom, Industrieroboter be- und entladen Förderbänder und Fahrzeuge, Transportdrohnen ergänzen diese Systeme durch die schnelle Beförderung von kleineren Gütern.
  • Automatisierte Systeme in Kliniken und Pflegeeinrichtungen transportieren beispielsweise medizinische Ausrüstung oder Medikamente.
  • Auf Baustellen werden automatisierte Fahrzeuge und Drohnen zum Transport von Baumaterialien eingesetzt.

Kultureller Wandel und Ausbildung

Neben technologischen Innovationen spielte auch der kulturelle Wandel eine entscheidende Rolle, um Arbeitsunfälle zu reduzieren. So entstanden intelligente Programme zur Sensibilisierung für Arbeitsschutz, um das Bewusstsein für potenzielle Gefahren zu schärfen. Damit wurde eine Sicherheitskultur gefördert, in der jeder Mitarbeiter aktiv zu Unfallverhütung und allgemein sichereren Arbeitsplätzen beiträgt.

Es entwickelten sich Arbeitsumgebungen, in denen Sicherheit und Gesundheitsschutz integraler Bestandteil des Arbeitsalltags sind und oberste Priorität haben. Diese Kultur, die sich durch Bewusstsein und Engagement aller Mitarbeiter auszeichnet, führte dazu, dass Sicherheit nun nicht nur als formale Pflicht, sondern als persönliches Anliegen und Verantwortung jedes Einzelnen gesehen wird.

Die Rolle von Mitarbeitern und Führungskräften

Mitarbeiter sind aktiv in Entwicklung sowie Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen einbezogen, sie unterstützen sich gegenseitig bei allen Arbeitsschutzfragen. Die offene und kontinuierliche Kommunikation über Sicherheitsrisiken und Vorfälle ermutigt Mitarbeiter, potenzielle Gefahren zu melden und Verbesserungsvorschläge zu machen.

Führungskräfte gehen mit gutem Beispiel voran und zeigen durch ihr Verhalten und ihre Entscheidungen, dass Sicherheit höchste Priorität hat. Sie unterstützen eine Kultur, in der Sicherheitsbedenken ernst genommen und umgehend behandelt werden. So können entsprechende Vorkehrungen proaktiv ergriffen werden, um Unfälle zu verhindern, bevor sie passieren.

Regelmäßige Schulungen – bei Bedarf aber auch jederzeit digital abrufbare Informationen zur Arbeitssicherheit – zu spezifischen Risiken der jeweiligen Arbeitsumgebung und aktuellen Sicherheitsvorkehrungen unterstützen die gelebte Sicherheitskultur ebenso wie routinemäßige Inspektionen und Risikobewertungen. Für das Minimieren von Muskel-Skelett-Erkrankungen durch Heben und Tragen spielen beispielsweise Ergonomieschulungen eine große Rolle. Pflichtschulungen für alle Mitarbeiter und regelmäßige Auffrischungskurse in Ergonomie wurden eingeführt, um sicherzustellen, dass jeder Mitarbeiter die besten Praktiken zum Vermeiden von Verletzungen kennt und anwendet. Diese Schulungen decken eine breite Themenpalette ab von der richtigen Hebetechnik bis hin zum Gestalten ergonomischer Arbeitsplätze.

Sicherheitsaspekte als Teil der Unternehmenspolitik

Da Sicherheitsaspekte in alle Geschäftsprozesse und -entscheidungen – von der Planung über die Durchführung bis hin zur Nachbereitung – integriert sind, werden sie zu einem wesentlichen Bestandteil der Unternehmenspolitik. Im kontinuierlichen Verbesserungsprozess werden sie regelmäßig überprüft und optimiert. Die systematische Analyse von Fehlern und Vorfällen, insbesondere durch Künstliche Intelligenz (KI), hilft, daraus zu lernen und künftige Risiken zu reduzieren.

Der Austausch von Best Practices in Netzwerken trug zum Verfestigen der Sicherheitskultur bei. Erfolgreiche Unternehmensbeispiele zeigten, wie strategische Ansätze zur Reduzierung von Unfällen führen können. Organisationen, die proaktiv in Sicherheitsprogramme und -technologien investierten, verminderten damit die Zahl der Arbeitsunfälle deutlich und stellten diese Beispiele – meist über digitale Plattformen und Netzwerke – Unternehmen zur Verfügung, die ihre Arbeitssicherheitsstandards verbessern wollten.

Regulatorische Maßnahmen und gesetzliche Vorgaben

Das konsequente Umsetzen der Arbeitsschutzgesetze war ein weiterer wichtiger Faktor zur Minimierung von Arbeitsunfällen. Vorgegebene Sicherheitsstandards verpflichteten Unternehmen, in sichere Arbeitsumgebungen zu investieren. Der Verstoß gegen Vorschriften war mit erheblichen Strafen belegt, was Unternehmen veranlasste, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Überprüfungen der Aufsichtsbehörden, stark unterstützt durch KI und digitale Werkzeuge, stellten das Einhalten der Vorschriften sicher. Die Kontrollen halfen, Schwachstellen in den Sicherheitsmaßnahmen der Unternehmen zu identifizieren und zu beheben.

Forschung und Prävention

Moderne Technologien zur frühzeitigen Risikoidentifikation haben ebenfalls zur Reduzierung von Arbeitsunfällen beigetragen. Sensoren und Überwachungssysteme erkannten potenzielle Gefahren bereits, bevor sie zu Unfällen führten. Diese Früherkennungssysteme waren in der Lage, physische Belastungen und Ermüdungserscheinungen zu messen, sodass präventive Maßnahmen ergriffen werden konnten. Dies ging so weit, dass maßgeschneiderte Präventionsprogramme zur Vermeidung von Muskel-Skelett-Erkrankungen zur Verfügung standen. Diese Programme berücksichtigten individuelle gesundheitliche Voraussetzungen sowie Arbeitsbedingungen und boten spezifische Empfehlungen zur Unfallverhütung. Das Personalisieren der Präventionsmaßnahmen steigerte die Effizienz dieser Programme erheblich.

Verlagerung der Unfallschwerpunkte und -risiken

Bei all den positiven Betrachtungen darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass sich mit der Einführung neuer Technologien die Unfallschwerpunkte und -risiken verschieben. Während traditionelle Arbeitsunfälle im Segment Heben und Tragen abgenommen haben, sind neue Risiken entstanden, beispielsweise durch den Umgang mit komplexen Maschinen und Automatisierungssystemen. Die Arbeitssicherheit muss sich kontinuierlich an diese neuen Herausforderungen anpassen. Daher bleibt auch im Jahr 2050 der Arbeitsschutz ein zentrales Thema. Die kontinuierliche Verbesserung der Sicherheitsstandards und die Anpassung an neue Risiken sind entscheidend, um eine unfallfreie Arbeitswelt zu gewährleisten. Es ist unerlässlich, dass Unternehmen und Mitarbeiter weiterhin in Arbeitssicherheit investieren und sich den neuen Herausforderungen stellen.

FAZIT

Die Entwicklung hin zur unfallfreien Arbeitswelt in Sachen Heben und Tragen ist im Jahr 2050 eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Die Kombination aus technologischen Innovationen, kulturellem Wandel, Vorschriften und Forschung hat zur drastischen Reduzierung entsprechender Arbeitsunfälle geführt. Die skizzierte Situation zeigt, dass diese Vision erreichbar ist.

Aber müssen wir wirklich bis 2050 warten, um diesen Zustand zu erreichen? Zur Vermeidung von Muskel-Skelett-Erkrankungen ist schon heute vieles vorhanden: Exoskelette warten ebenso auf ihren Einsatz wie autonome Transportsysteme. Wer hindert die Akteure daran, Ergonomieschulungen anzubieten und Sicherheitskultur in der Organisation wirklich zu leben? Und strenge Arbeitsschutzregularien wollen auch bereits 2024 erfüllt und befolgt werden.

Die Zukunft ist jetzt und sie lehrt uns, dass zu jedem Zeitpunkt eine ganzheitliche Herangehensweise an die Arbeitssicherheit notwendig ist. Die fortlaufende Forschung und Entwicklung neuer Technologien sowie die Anpassung der Sicherheitsstandards an sich verändernde Arbeitsbedingungen sind unerlässlich, um Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz stetig auf einem hohen Niveau zu halten.

DIE AUTOREN:

Auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit sind Anja Blüthner und Thomas Büschel Experten. Blüthner leitet bei der TÜV Thüringen Akademie GmbH die Abteilung Produktentwicklung, Büschel ist dort Geschäftsführer. Zu den Leistungen der TÜV Thüringen Akademie gehören insbesondere Aus-, Fort- und Weiterbildungsseminare in den unterschiedlichsten Bereichen wie Arbeits- und Gesundheitsschutz, Energie und Umwelt oder Daten und Digitales.

10561