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Knapp vorbei – und doch daraus gelernt
Beinaheunfälle in der Chemiebranche
Der systematische Umgang mit Beinaheunfällen ist eine große Chance für die Unfallprävention im Unternehmen. Er hilft dabei, potenzielle Gefahrenquellen sichtbar zu machen, wie die Chemiebranche exemplarisch vormacht.
Text: Dräger Safety
AUF DEN PUNKT
- Beinaheunfälle werden systematisch aufgezeichnet und ausgewertet
- Das Bewusstsein für solche Ereignisse wird in der Firmenkultur verankert
- Wiederholtes Fehlverhalten von Beschäftigten wird sanktioniert
Das professionelle Management von Beinaheunfällen (englisch: Near-Misses) ist ein wichtiges Thema in der internationalen Chemieindustrie. Idealerweise werden Beinaheunfälle im Rahmen eines Berichts als Teil des vor Ort angewandten Arbeitsschutzmanagementsystems (AMS) erfasst. Niedrige Beinaheunfallquoten, publiziert in den jährlichen Geschäfts- oder Nachhaltigkeitsberichten, gelten als „harte Währung“ einer erfolgreichen Health-Saftey-Environment-Strategie (HSE-Strategie).
Die wiederum zahlt positiv auf das Außen- und Innenbild eines Unternehmens ein und ist ein wichtiger Bewertungsparameter für die Unternehmens-Stakeholder – seien es Investoren, Kunden oder die Öffentlichkeit. Und nicht zuletzt: Lassen sich durch ein Near-Miss-Management folgenschwere und damit kostenintensive Zwischenfälle und Unfälle tatsächlich reduzieren, trägt das wesentlich zur wirtschaftlichen Performance bei.
Dass Near-Miss-Management nicht nur eine Frage der generellen Fürsorgepflicht für Mitarbeiter ist, sondern auch von hoher wirtschaftlicher Relevanz, zeigt eine Statistik aus der Öl- und Gasindustrie: Durch Zwischenfälle in Raffinerien und in der petrochemischen Industrie ist beispielsweise von 2005 bis 2008 weltweit ein Schaden in Höhe von rund 900 Millionen US-Dollar entstanden.
DEFINITION
Ein Beinaheunfall ist ein unvorhergesehenes Ereignis, das nicht zu einem Unfall oder zum Tod führt, aber hätte führen können.
Die Theorie: Das Heinrich-Modell
Beinaheunfälle bilden die Basis der 1931 von dem US-Ingenieur Herbert Heinrich definierten Arbeitssicherheitspyramide (siehe Beitrag S. 14 bis 17). Sie basiert auf der Annahme, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Zahl der gemeldeten Beinaheunfälle und der Zahl ernsthafter bzw. tödlicher Arbeitsunfälle. Die Schlussfolgerung: Kann die Zahl der Beinaheunfälle reduziert werden, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit des tatsächlichen Eintretens ernsthafter bis tödlicher Unfälle. Das Heinrich-Modell ist heute in der Arbeitssicherheit gelebte Praxis, obwohl sich der behauptete Kausalzusammenhang nicht final beweisen lässt.
Ziel: Potenzielle Gefahrenquellen sichtbar machen
Die beste Wahl der Unfallvermeidung ist natürlich, wenn im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung und eines darauf aufbauenden Arbeitssicherheitskonzepts mögliche Gefahrenquellen ausgeschaltet werden. Eine retrospektive Möglichkeit bezüglich der Identifikation eventuell verdeckter Gefahrenquellen ist die systematische Aufzeichnung und Auswertung solcher Ereignisse. Dazu muss das Near-Miss-Management in das Arbeitssicherheitskonzept integriert und umgesetzt werden – etwa indem die entsprechenden Regeln und Maßnahmen im Top-down-Verfahren auf allen Unternehmensebenen verpflichtend eingehalten werden.
Ein solches Vorgehen hilft dabei, das Know-how zum sicheren Verhalten im Unternehmen zu teilen. Zum Beispiel das Wissen über den richtigen Umgang mit Beinaheunfällen: Sie können ihre Ursache in akuten, materialbedingten Zuständen wie zum Beispiel Gasleckagen, in nicht exakt definierten Arbeitsabläufen, aber auch in unsicherem Verhalten von Mitarbeitern haben. Kollegen, die solche Situationen beobachten, müssen währenddessen viele Überlegungen anstellen und Entscheidungen treffen: Wie lautet die Arbeitsanweisung? Weicht der Vorgang von der Arbeitsanweisung ab? Ist der Vorgang überhaupt eine Meldung wert? Wird womöglich jemand für ein eventuelles Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen werden?
Der Faktor Mensch: Unsicheres Verhalten ablegen
Die eigenständige situative Beantwortung dieser Fragen stellt für den Beobachter eine persönliche Herausforderung dar. Daher sollten Near-Miss-Reporting-Systeme in der Sicherheitskultur verankert werden, um aus dieser mit vielen Fragezeichen verbundenen Situation eine strukturierte und verlässliche zu machen. Dieses Prinzip funktioniert natürlich nur, wenn es den eigenen Mitarbeitern, den Kontraktoren sowie ihren Subkontraktoren bekannt ist und es von allen akzeptiert wird. Und wenn der entsprechende Prozess möglichst simpel ist: Dazu gehört zum Beispiel ein selbsterklärendes Formular, das die genaue Beschreibung und Dokumentation von Beinaheunfällen erleichtert. Das Sammeln von Near-Miss-Ereignissen kann physisch durch einen simplen Zettelkasten, der am Werkstor hängt, aber auch durch computergestützte Verfahren erfolgen.
Akzeptanzprobleme in der Praxis
„Near-Miss-Reporting-Systeme haben in der Realität allerdings immer mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen“, sagt René Lutat, bei Dräger Safety in Krefeld als Operations Manager global zuständig für das Geschäftsfeld Shutdown & Rental Management. Die von ihm koordinierten Arbeitssicherheits-Teams sammeln als Dienstleister während ihrer Einsätze auf internationalen Anlagen viele praktische Erfahrungen. „Das Beste ist“, so Lutat, „die Menschen direkt anzusprechen, wenn wir mit offenen Augen über die Anlage gehen und potenzielle Unfallsituationen beobachten. Dann fühlt sich der Betroffene mitgenommen statt ertappt und wir können gleich gemeinsam eine sichere Lösung finden.“
Das Involvieren von Mitarbeitern in den Near-Miss-Reporting-Prozess gibt ihnen das Gefühl, ein ernstzunehmender, wichtiger Teil des Unternehmens, des Teams oder des Projekts zu sein. Diese Wertschätzung kann dazu beitragen, dass jeder Einzelne achtsamer, kritischer und auch selbstkritischer wird bei der Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen. Sinnvoll ist, alle Kollegen und Kontraktoren am Lerneffekt aus Near-Miss-Reportings teilhaben zu lassen, etwa indem die beobachteten und gemeldeten Fälle mithilfe eines Standardformulars verarbeitet werden. Es enthält eine Kurzfassung des Ereignisses, analysiert in Kürze die Ursachen, bildet den Ort des Ereignisses mit einem Foto ab und beschreibt neben den Lernerfahrungen auch die Konsequenzen, die aus dem Ereignis gezogen werden. Das Formular wird allen internen und externen Mitarbeitern als Rundschreiben zur Verfügung gestellt.
Pro und Kontra: Anonyme und nicht anonyme Meldeverfahren
Bei der Aufzeichnung von Beinaheunfällen können Verfahren zur Anwendung kommen, bei denen der Zeuge gegenüber seinen Kollegen anonym bleibt, die Meldestelle bzw. der HSE-Manager jedoch den Beobachter kennt. Ein solches halb anonymes Vorgehen erleichtert den Vorgesetzten die Nachvollziehbarkeit der Situation. „Wie genau hier verfahren wird, das hängt von der Unternehmensphilosophie und den national geltenden Arbeitsgesetzen ab“, sagt Dräger-Experte René Lutat. Wichtig ist generell, bei allen Beteiligten ein Grundvertrauen aufzubauen: Das System soll nicht zur individuellen Bestrafung dienen. Stattdessen soll es dazu motivieren, von allen „gelebt“ zu werden, um ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen.
Offensichtliches Fehlverhalten hingegen kann sanktioniert werden, wenn der Verursacher eines Beinaheunfalls nicht anonym bleibt. Das hat aus Sicht des Anlagenbetreibers den Vorteil, dass er eine Bewertungsdatenbank zum Beispiel im Hinblick auf die Einhaltung von Arbeitssicherheitsgrundsätzen pflegen kann. Sie dient bei wiederholten Verstößen als Basis für Sanktionen – etwa einen personenbezogenen, temporären oder permanenten Entzug der Zugangsberechtigung zur Anlage. In Ländern wie Deutschland jedoch schränken Gesetze sowie Mitbestimmungs- und Datenschutzregelungen die Möglichkeiten des nicht anonymen Reportings ein.
Sicherheitsstatistik als Auswahlkriterium für Kontraktoren
Wird eine Bewertungsdatenbank als interne Sicherheitsstatistik gepflegt, kann der Anlagenbetreiber sie bei künftigen Auswahlverfahren heranziehen. Ein Kontraktor, der mit seinem Auftraggeber bezüglich der Einhaltung von Arbeitssicherheitsvorschriften auf einer Linie ist, hat dann gute Chancen, beim nächsten Projekt wieder in der Auswahl zu sein.
Anlagenstillstände als Chance begreifen
Während eines Anlagenstillstands kommen bis zu 4.000 externe Mitarbeiter im Schichtbetrieb auf eine Anlage, daher ist die sogenannte Stillstandsunterweisung das A und O bei der Unfallprävention: Alle müssen vor der Arbeitsaufnahme über die individuellen Anlagensicherheitsregeln in Kenntnis gesetzt werden. Das kann per DVD, Broschüre oder durch eine persönliche Schulung erfolgen. Auch über die Existenz und die Notwendigkeit von Near-Miss-Reporting-Systemen wird informiert. Damit der Spaß an der Sache nicht zu kurz kommt, können Near-Miss-Reportings auch mit einem Belohnungssystem verknüpft werden, um für die Teilnahme am Meldesystem zu werben. So kann während mehrwöchiger Shutdown-Phasen von der HSE-Abteilung beispielsweise mal die Auszeichnung „Safety-Stars“ an die besten Teams verliehen, mal Pakete mit T-Shirts, Sonnenbrillen oder anderen Gimmicks überreicht werden.
Lessons learned: Was Near-Miss-Management kann
Je weniger Beinaheunfälle passieren, desto höher – zumindest laut Heinrich-Modell – die Wahrscheinlichkeit, folgenschwere Unfälle zu vermeiden. Führt die Untersuchung eines Beinaheunfalls dazu, dass sich dessen Ursachen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wiederholen, ist schon vieles gewonnen. Und es spricht einiges dafür, dabei über den unternehmenseigenen Tellerrand hinauszusehen: Dies macht ein industrieweites Near-Miss-ReportingSystem für die Öl- und Gasindustrie in Kanada vor. Die „Enform – The Safety Organization for Canada’s Upstream Oil and Gas Industry“ informiert alle Branchenteilnehmer auf ihrer Internetplattform „enform.ca“ unter der Rubrik „Safety Alerts“ über reale typische und untypische Risiken.
Das schärft die Aufmerksamkeit und spornt an, die eigenen Arbeitsprozesse zu überdenken, Nachlässigkeiten zu reflektieren und Korrekturen vorzunehmen. Near-Miss-Reports bilden außerdem die Informationsbasis für das Ableiten von Key Performance Indicators (KPIs): Der Quotient aus Near-Miss-Fällen und Mitarbeiterzahl (gesplittet nach eigenen Mitarbeitern und Kontraktoren) ermöglicht ein Benchmarking und eine Trendanalyse im Vergleich mit früheren Geschäftsjahren. KPIs machen außerdem deutlich, wo genau im Safety-Prozess Handlungsbedarf besteht.
FAZIT
Das Ziel „Zero Accidents“ ist ohne Frage sehr ambitioniert. Instrumente wie das Near-Miss-Reporting können dabei helfen, die Arbeitssicherheit in der Praxis signifikant zu optimieren und durch systematische Unfallprävention die Zero-Accidents-Philosophie zu unterstützen. Wichtig dabei: Teamorientierung, ein stets kritischer Blick auf die Prozesse, eine offene Fehlerkultur, bei groben Verstößen keine Scheu vor Sanktionen und die Adressierung des Verantwortungsgefühls eines jeden Einzelnen.
DAS UNTERNEHMEN:
Dräger Safety zählt zu den weltweit führenden Herstellern von Sicherheitstechnik. Das in Lübeck gegründete Unternehmen stellt unter anderem persönliche Schutzausrüstung (PSA) für die Industrie- und Chemiebranche sowie Messgeräte für Gas her. www.draeger.com/de_de/Safety