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Der Chef als Dienstleister
Agile Führung gilt als bewährtes Mittel, um flexibler auf Veränderungen am Markt reagieren zu können. Für die Führungsebene kann sie eine erhebliche Entlastung bedeuten, als attraktives Arbeitsumfeld wird sie für den Fachkräftemangel immer bedeutsamer. Ihr Problem: Nicht jeder Mitarbeiter fühlt sich der geforderten Eigenverantwortung gewachsen.
Die Corona-Pandemie hat es deutlich gezeigt: Wenn die Zeiten stürmischer werden und schnelles Handeln erforderlich ist, gerät die traditionelle Rolle des Chefs ins Wanken. Als ultimativer Entscheidungsträger kann er für die Unternehmensentwicklung plötzlich zum bedrohlichen Hemmnis werden. Um für anhaltende und nachhaltige Veränderungen gerüstet zu sein, braucht es Agilität. Nicht zuletzt die zunehmende Digitalisierung macht sie notwendig, um Fortschritt einzuläuten und im Wettbewerb mithalten zu können. Jan Ahrend, Change Manager, Coach und Autor des Buches „Agile Führung“ hat während der akuten Corona-Phase eine prägnante Beobachtung gemacht.
DER TRANSFORMATIONSPROZESS VON DER HIERARCHIE ZUR AGILEN FÜHRUNG IST MÜHSAM UND ZÄH.
„Ironischerweise haben Unternehmen in der Panik auf das alte Muster Command and Control zurückgegriffen. Das muss nicht zwingend verkehrt sein, aber ich habe zahlreiche Manager erlebt, die dadurch massiv überlastet waren. Unternehmen hingegen, deren Teams bereits agil organisiert sind, konnten deutlich erfolgreicher auf die unerwarteten Ereignisse reagieren. Es ist dieses bewegliche Mindset, auf das wir uns viel mehr einlassen sollten – Corona wird sicher nicht die letzte Überraschung sein, die alles auf den Kopf stellt.“
Der Transformationsprozess von der Hierarchie zur agilen Führung ist jedoch mühsam und zäh. In ihrem Buch „Agile Führung“ von 2019 werfen er und Co-Autorin Steffi Triest, CEO der vicando GmbH und Management Consultant, erstmals einen ganzheitlichen Blick auf das Thema. Sie plädieren dafür, alle vier Betrachtungsebenen in den Implementierungsprozess einzubeziehen: die des Mitarbeiters, des selbstorganisierten Teams, der Führungsebene und der agilen Unternehmensorganisation. So seien Probleme in der Umstellung leichter vermeidbar. „Allem voran steht der aktive Mitarbeiter, der sein eigenes Selbstbild des passiven Befehlsausführers revidiert und sich auf ein eigenständigeres Handeln einlässt“, sagt Steffi Triest.
Für Führungskräfte bedeutet dies, von gewohnten Denkmustern als Manager abzulassen und ihre Verantwortung stattdessen mit selbstorganisierten Teams zu teilen. Als Moderator gibt er ihnen die Freiheit, den Prozessmodus, nach dem sie arbeiten, selbst zu bestimmen und an ihre Bedürfnisse anzupassen. Der agile Chef versteht sich fortan als beobachtender Berater, der die Kompetenzen aller Mitarbeiter gezielter analysiert und zur Anwendung anregt. „Damit befreit er sich selbst von dem Druck, alles allein leisten zu müssen. Der Chef muss nicht mehr der Superheld sein, der die komplette Last auf seinen Schultern trägt“, sagt Jan Ahrend.
Als „Erster unter Gleichen“, wenngleich aufgrund seiner Stellung ranghöher, wird er zum gleichberechtigten Teamplayer. Das Wesen der agilen Führung liege demnach nicht in der Abwesenheit von Führung, sondern in ihrer Wechselhaftigkeit, weiß Steffi Triest. „Es wird von den Mitarbeitern erwartet, dass jeder mit seinem Fachwissen bereit ist, einen Schritt nach vorn zu machen und in seinem Bereich in Führung zu gehen. Leitgedanke sollte sein, dass eine Entscheidung nicht aufgrund von Hierarchie getroffen wird, sondern aufgrund ihrer Berechtigung. Zudem können sie effizienter und effektiver getroffen werden, wenn den Mitarbeitern mehr Freiheit zur Selbstorganisation gewährt wird. “
„ES GEHT DARUM, DIE INTELLIGENZ DES GESAMTEN TEAMS ZU NUTZEN.“
Statt von oben nach unten erlaube die agile Führung, dass Angestellte und Vorgesetzte innerhalb eines festgelegten Rahmens auf Augenhöhe miteinander agieren. Der Vorteil dieses Führungsstils liegt für Steffi Triest und Jan Ahrend auf der Hand: „Es geht darum, die Intelligenz des gesamten Teams zu nutzen, um Lösungen zu finden. Die Führungskraft agiert nach dem Prinzip des Serving Leadership, sie nimmt die Rolle als Dienstleister ein, um Mitarbeiter zu ermuntern, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Wenn es gelingt, die Mitarbeiter zu einer selbstbestimmt agierenden Einheit aufzubauen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass daraus ein funktionierendes Team erwächst, das die Vision des Unternehmens gemeinsam konzentriert verfolgt.“
Als Schwerpunktthema des HR-Reports 2018, einer empirischen Studie des Instituts für Beschäftigung und Employability IBE, das im Auftrag des internationalen Personaldienstleisters Hays für Deutschland, Österreich und die Schweiz Erhebungen vornahm, zeigte sich, dass 69 Prozent der Befragten einen Bedeutungszuwachs der agilen Organisation erwarten. Für eine agile Organisation nannten sie vor allem ihre höhere Flexibilität (55 %) und ihre Schnelligkeit (51 %). Als drittwichtigsten Grund verwiesen die Befragten auf die bessere Vernetzung in der Organisation.
Doch nicht jeder Mensch ist für den agilen Führungsstil geeignet, wie Steffi Triest erfahren hat. Dies sei einerseits auf aktuelle Lebensumstände zurückzuführen, andererseits auf die soziale Prägung. „Wir unterscheiden generell in zwei Typen von Mitarbeitern – die Erdulder, die keine Veränderung wünschen und sich mit ihrer Situation arrangiert haben, sowie die Gestalter, die zielorientiert sind, vor allem im Hinblick auf die eigene Karriere. Für den letztgenannten Typ ist die agile Führung ideal, denn sie entspricht seinem Naturell, sich weiterzuentwickeln und Lösungen zu finden“, weiß Steffi Triest. Die vor rund 100 Jahren eingeführte Arbeitsweise aus Befehl und Ausführen habe den Menschen auf eine sehr planerisch-logische Ebene befördert. Mit der agilen Unternehmensstruktur werde die Trennung zwischen Denken und Umsetzen aufgehoben und ein neues Handlungsmuster der Eigenverantwortung ausgerufen.
„Nicht jeder kommt mit diesem radikalen Ansatz klar. Wir erleben immer wieder, dass Mitarbeiter im Zuge des Umschwungs kündigen, weil sie sich dem persönlichen Umgang mit Stress und dem Erwartungsdruck nicht gewachsen fühlen.“
Auch Misserfolge werden als Gesamtleistung des Teams verstanden, die nicht von einer einzelnen Person verantwortet werden, sondern eher im kollektiven Sinne behandelt werden: Was haben wir übersehen? Was können wir daraus lernen und in Zukunft vermeiden? — Integration statt Sanktion. In der agilen Führung weicht die Begrifflichkeit der alten Autoritäten einer neuen Definition: Gehorsam wandelt sich zu Kooperation. Aus Distanz wird Nähe, Ungeduld wandelt sich zu Beharrlichkeit. So kann sich agile Führung in allen Phasen der Organisationsentwicklung als neue Chance für Erfolg erweisen, ob unmittelbar nach der Gründung oder in Zeiten der Neuausrichtung.
„Wichtig ist zu verstehen, dass stets auch die Identität der Mitarbeiter von dem Wandlungsprozess betroffen ist“, sagt Steffi Triest. Die Herausforderung des Führungswechsels bestehe darin, den Konflikt zwischen Veränderung und Bewahren auszubalancieren. Die Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung GmbH, ein 1849 gegründeter Fachverlag für Recht, Steuer und Wirtschaft mit Sitz in Wien, nahm diese an. Als sich das Familienunternehmen entschied, sein Online-Geschäft neu auszurichten, stellte es seine 160-jährige Tradition auf den Prüfstand im Sinne der agilen Organisation. Man entschied sich, die bestehende Hierarchie aufrechtzuerhalten und auf absehbare Zeit nicht infrage zu stellen. Die Haltung der Führungskräfte hingegen wandelte sich unter dem Aspekt der alten Autorität zur neuen Autorität. Seither agieren diese in ihrer neuen Funktion als Ermöglicher und Coach. Die jährlichen Zielgespräche mit den Mitarbeitern führen sie weiterhin, das Bonussystem wurde jedoch abgeschafft. Stattdessen bilden nun persönliche und inhaltliche Ziele den primären Gesprächsinhalt.
DIE FÜHRUNGSKRÄFTE AGIEREN IN IHRER NEUEN FUNKTION ALS ERMÖGLICHER UND COACH.
Unter diesem Aspekt, so argumentiert Steffi Triest, birgt die agile Führung das große Potenzial, ein attraktives Betriebsklima zu schaffen, in dem Mitarbeiter Wertschätzung erfahren und ihre Fähigkeiten ausschöpfen können. Für Triest stellt diese Art der Achtsamkeit das beste Mittel dar, um künftig Fachkräfte zu gewinnen. Als Mitarbeiterin eines schwedischen Konzerns hat sie die Vorzüge der agilen Organisationsstruktur vor vielen Jahren selbst erfahren — und war begeistert.
„Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, einen Sinn in meinem beruflichen Dasein zu haben und ernst genommen zu werden. Für mich ist es das einzige Führungsmodell, das diesen Anspruch erfüllen kann, und es trifft den Nerv der nachkommenden Generation. Diese legt großen Wert auf ein ausgeglichenes Leben aus Arbeit und Freizeit. Die jungen Arbeitnehmer von heute sind nicht mehr bereit, täglich eine Lebenskrise zu erleiden, weil der Chef ein Psychopath ist.“
Jan Ahrend sieht zusätzlich in der zunehmenden Komplexität ein wichtiges Kriterium für die agile Führung. Wenn Unternehmensstränge sich weiter ausdifferenzieren, brauche es eigenständig agierende Teams. Das erfuhr auch die gemeinnützige Nichtregierungsorganisation (NGO) Mein Grundeinkommen mit zunehmendem Wachstum. Seit ihrer Gründung 2014 hat die Organisation bereits mehr als 930 bedingungslose Grundeinkommen à 12.000 Euro vergeben, die auf Spendenbasis eingesammelt wurden.
2019 stellte sie auf das Konzept der Holokratie um, um konkurrenzfähiger zu bleiben. Holokratie, ein Wortspiel, das sich zusammensetzt aus den Wörtern holos – ganzheitlich und kratia – Herrschaft, verzichtet auf eine traditionelle Führungsposition, stattdessen agieren die Mitarbeiter in Rollen und Arbeitskreisen. Damit stellt sie das bisher intensivste Modell der agilen Führung dar. Mitarbeiter sind handlungsbefähigter, weil sie Entscheidungen ohne Rücksprache mit einem Chef autonom treffen. Für ihr konsequentes Umsetzen der Holokratie-Idee, das ein Mindestmaß an Hierarchien und Regeln mit einem Höchstmaß an individueller Verantwortung und Freiheit verknüpft, wurde Mein Grundeinkommen 2020 mit dem New Work Award ausgezeichnet.
„AGILITÄT SOLLTE IM IDEALFALL ALS REISE FÜR DAS GESAMTEUNTERNEHMEN GESEHEN WERDEN. WENN KLAR IST, DASS VERÄNDERUNG AUF DIESER REISE DIE EINZIGE KONSTANTE IST UND DASS ALLE IM TEAM MIT DEM NOTWENDIGEN COMMITMENT DABEI SIND, IST DAS KERNZIEL BEREITS ERREICHT.“
STEFFI TRIEST
Greta Stahr verantwortet als „Lead Link“ die Öffentlichkeitsarbeit bei Mein Grundeinkommen. Ein Lead Link hält im Team die Fäden zusammen, hat den Überblick und vertritt dessen Interessen auch in anderen Teams. Als sie dazukam, bestand die Öffentlichkeitsarbeit aus zwölf Mitarbeitern, inzwischen sind es aktuell 35 Mitarbeiter. Zwar habe die NGO bereits von Anfang an in agilen Strukturen agiert, „allerdings gab es Rollen und Verantwortlichkeiten, die noch nicht konkret definiert waren, dadurch herrschte eine gewisse Verantwortungsdiffusion“, sagt Greta Stahr.
ES DAUERT SEINE ZEIT, DIE SPIELREGELN ZU LERNEN.
Sie hat in ihrer bisherigen Karriere den Umschwung von der klassischen Hierarchie zur Holokratie miterlebt und kann sich kein klassisches Arbeitsmodell mehr vorstellen. „Es dauert seine Zeit, die Spielregeln zu lernen, und es erfordert eine permanente Anpassungsfähigkeit. Das ist nicht zwingend für jeden in jeder Lebensphase das Richtige. Mich als relativ introvertierte Person haben die klaren Strukturen der Holokratie befähigt, mich mehr einzubringen, weil es klar definierte Räume gibt, in denen nicht nur die Lautesten gehört werden. Bei Kollegen habe ich es ähnlich erlebt. Die Holokratie erlaubt es, die Potenziale aller Mitarbeiter gleichermaßen einzubeziehen, das macht es so spannend.“
Das Konzept der Rollen statt vergebener Positionen erlaube, schnell und unkompliziert neue Wirkungsbereiche zu schaffen, die das Vorankommen des Unternehmens begünstigen. Eine Feedback-orientierte Kommunikationskultur gebe jedem Mitarbeiter die Chance, seinen Wirkungsbereich immer wieder unter den Einschätzungen der Kollegen und sich selbst neu zu betrachten und anzupassen. „Persönlich hat es mich sehr vorwärts gebracht, ich traue mir öfter zu, Neues auszuprobieren, auch wenn ich gefühlt nicht zu 100 Prozent sicher bin. Ich weiß, dass ich eine Rolle auch wieder aufgeben kann, ohne dass ich mich darum sorgen muss, meinen Job zu verlieren“, sagt Greta Stahr.
Einen wesentlichen Vorteil der Holokratie sieht sie im zielorientierten Agieren. „Ich empfinde das Arbeiten seither mit den Kollegen weniger Ego-basiert, weil es keine erstrebenswerten Machtpositionen mehr gibt. Dadurch können sich alle in einem entspannten Umfeld auf das gemeinsame Ziel konzentrieren. Haben wir uns früher in endlosen Meetings darum bemüht, das perfekte Ergebnis vorherzusagen, konzentrieren wir uns jetzt auf den nächsten Schritt. Dadurch agieren wir sehr auf den Punkt, schnell und fokussiert.“
Wenn es innerhalb eines Regelwerks keine Begrenzungen gibt, kann Unvorhersehbarkeit gepaart mit Mut zur großen Chance für Innovation werden. Steffi Triest und Jan Ahrend sehen in der Agilität das beste Mittel für einen Wandlungsprozess in der Unternehmenswelt, der gerade erst Fahrt aufnimmt. „Wenn es keine Blaupausen gibt, wenn das Wachstum nicht in Richtung: höher schneller weiter, sondern in Richtung: anders, komplexer, neuartiger geht, braucht es eine agile Führungspersönlichkeit, die zulässt, dass das Potenzial aller voll ausgeschöpft wird. Wenn sich die unterschiedlichsten Kräfte bündeln können, kann dabei Großartiges herauskommen.“