Ein Symbol des Richtungswechsels

Alnatura hat seit Anfang 2019 eine neue Heimat in Darmstadt. Das Biolebensmittel-Unternehmen setzte mit der Bauweise der Firmenzentrale ökologisch neue Maßstäbe. Zugleich soll das Bürogebäude aber auch für nachhaltige Denk- und Arbeitsweisen stehen.

Für George Orwell war 1984 die Zukunft. In seiner 1949 erschienenen Dystopie zeichnete der englische Schriftsteller das düstere Bild des Lebens in einem totalitären Überwachungsstaat, einer furchtbaren Welt. Götz Eduard Rehn trat in der Gegenwart von 1984 an, um die Welt der Zukunft ein bisschen besser zu machen durch „Konzeption und Vertrieb natürlicher Lebensmittel Dr. Rehn“, so der Name in der Anfangszeit. 36 Jahre später ist aus seiner Idee „Alnatura“ geworden – eines der größten deutschen Unternehmen in der Biolebensmittel-Branche.

Dem Gründer und Geschäftsführer ist Nachhaltigkeit heute noch immer ein wichtiges Anliegen. „Wir erleben, dass unsere ­Gesellschaft im Wesentlichen von der Wirtschaft mit ihrem Paradigma des Erfolgs bestimmt wird. Für anstehende ­dringliche Themen wie den Klimawandel muss statt Erfolg der Sinn für den Menschen im Mittelpunkt stehen“, erklärt Rehn im jüngsten Nachhaltigkeitsbericht von Alnatura.

REHN: „DIE WIRTSCHAFT SOLL DEM MENSCHEN DIENEN“

Der Sinn – diesen Begriff benutzt der ­70-Jährige häufig und er spiegelt auch seine anthroposophische Weltsicht wider: „Die Wirtschaft soll dem Menschen dienen, indem sie ihm beispielsweise menschenwürdige und erfüllende Arbeit bietet und sinnvolle Produkte bereitstellt – etwa Bio-Produkte, die im Anbau viel weniger klimaschädigende Treibhausgase freisetzen.“ Letzteres steht im Einklang mit den Zielen der Bundesregierung und ihrer Agenda 2030. Bis dahin soll der Anteil des Ökolandbaus an der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche auf 20 Prozent steigen. Der Weg indes ist noch weit: Laut Umweltbundesamt betrug der Ökolandbau-Anteil im Jahr 2018 gerade einmal 9,1 Prozent.

Portrait Görtz Rehn, Alnatura
Götz Rehn ist Gründer und Geschäftsführer von Alnatura. Er vertritt den Standpunkt: „Für anstehende dringliche Themen wie den Klimawandel muss statt Erfolg der Sinn für den Menschen im Mittelpunkt stehen.“ Foto: Alnatura/Annika List

Alnatura will seinen Teil zum Gelingen und zum Erreichen der Klimaziele beitragen. Die Förderung des ökologischen Landbaus ist dabei nur ein Baustein von vielen. Die Produkte in Bio-­Qualität und deren Herstellung gehören für das Unternehmen zum Thema Nachhaltigkeit, die Verpackungen, die Transportwege und die Einhaltung von Sozialstandards seitens der ­Herstellerpartner ebenso.

Ein wichtiger Aspekt sind darüber hinaus die Rahmenbedingungen für die eigenen Beschäftigten. „Um einen Richtungswechsel in der Wirtschaft zu erreichen und den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, gilt es, nachhaltige Denk- und Arbeitsweisen umzusetzen“, betont Rehn. „Für die Zukunft von Unternehmen bedeutet das, die Zusammenarbeit neu zu organisieren.“ Man wolle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Märkten von den Einsatzplänen bis zu Preisentscheidungen bei Obst und Gemüse mehr Entscheidungsfreiheit geben, heißt es im Nachhaltigkeitsbericht. Das Ziel sei es, die Zusammenarbeit zwischen den Beschäftigten in den Märkten und am Unternehmenssitz sowie zwischen allen Beteiligten „offener, agiler und selbstverantwortlicher“ zu gestalten.

FIRMENZENTRALE AUF EHEMALIGEM ­MILITÄRGELÄNDE

Mit diesem Konzept erreichte Alnatura im vergangenen Jahr den zweiten Platz beim „New Work Award“, der vom sozialen Netzwerk Xing vergeben wird. Die Jury würdigte „die für die Einzelhandelsbranche außergewöhnliche Selbstorganisation und eigenverantwortliches Arbeiten“ der Mitarbeiter in den Filialen.

Als Symbol für die Veränderung in Denk- und Arbeitsweisen steht der neue Firmensitz. Im Januar des vergangenen Jahres bezog man den sogenannten „Alnatura Campus“. Auf einem ehemaligen US-Kasernengelände, den Kelley-Barracks, ist seitdem im Südwesten von Darmstadt die Unternehmenszentrale angesiedelt, zudem gibt es dort einen angegliederten Waldorfkindergarten, ein vegetarisches Restaurant sowie einen Außenbereich mit Schul-, Pacht- und Erlebnisgärten. Statt einer brachliegenden, zubetonierten Fläche erwartet Beschäftigte wie Besucher ein offenes und ökologisch wertvolles Areal, das charakterisiert ist durch die Verbindung mit der umgebenden Natur, durch die Nutzung der vorhandenen Ressourcen und die schlichte, naturnahe Ästhetik.

NACHHALTIG IN VIER DIMENSIONEN

Alnatura versteht Nachhaltigkeit in vier Dimensionen.
Das Bürogebäude „Arbeitswelt“ bildet diese ab:

1. Ökonomische Dimension: Realisierung mit ­günstigem Quadratmeterpreis

2. Ökologische Dimension: Deutscher Nachhaltigkeitspreis Architektur und Bestnote Platin von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB)

3. Soziale Dimension: Stärkung des vernetzten und flexiblen Arbeitens und damit Förderung eines Kern­elements der Unternehmenskultur

4. Geistig-kulturelle Dimension: Ästhetik des ­Gebäudes

Auf den 55.000 Quadratmetern Fläche ­befindet sich auch besagte ­Unternehmenszentrale, „Alnatura Arbeitswelt“ genannt. Bis zu 500 Beschäftigte können darin arbeiten. Es ist Europas größtes Bürogebäude mit Wänden aus Stampflehm. Zu den Baukosten macht Alnatura auf Nachfrage keine genauen Angaben, sie hätten „im unteren zweistelligen Millionenbereich“ gelegen. Die Deutsche Bauzeitschrift, die in einem Beitrag über die Arbeitswelt auch den Architekten Martin Haas vom ausführenden Architekturbüro „haascookzemmrich Studio2050“ aus Stuttgart zitiert, beziffert die Baukosten auf 24 Millionen Euro. Haas sprach von „sehr günstigen“ 1.800 Euro pro Quadratmeter.

Vor vier Jahren hatte Alnatura die Auszeichnung als „Deutschlands nachhaltigstes mittelgroßes Unternehmen“ erhalten – in diesem Jahr ging der Deutsche Nachhaltigkeitspreis Architektur nach Darmstadt. „Das alte Baumaterial Lehm, nahezu ohne graue Energie, prägt dabei sowohl die äußere Gestalt als auch die innere Atmosphäre entscheidend mit und führt zu einer neuen Ästhetik im zeitgemäßen Bürobau. Das Gebäude besticht durch eine außerordentliche ganzheitliche Qualität, die zukunftsweisend ist und die Möglichkeiten einer nachhaltigen Bauweise umfassend auslotet“, begründete die Jury ihre Entscheidung.

DAS GEBÄUDE BESTEHT AUS 384 ­STAMPFLEHMBLÖCKEN

Neben Lehm besteht die Fassade aus Lavaschotter aus der Eifel und recyceltem Material aus dem Tunnelaushub des Bahnprojekts Stuttgart 21. Auf dem Campus-Gelände wurden in ehemaligen Panzerhallen die 384 Stampflehmblöcke hergestellt. Die Wände sind 69 Zentimeter dick, die Speichermasse sorgt für ein stabiles Temperaturniveau. Zur Einweihung gab es sogar eine Weltpremiere – noch nie zuvor war in einer Fassade aus Stampflehm eine Wandheizung zum Einsatz gekommen, die mittels Geothermie betrieben wird. Nur an etwa 60 besonders kalten Tagen im Jahr muss zusätzlich mit Erdgas geheizt werden.

Die Bauweise und das Material führen im Zusammenspiel dazu, dass Alnatura im Gebäude auf ressourcenintensive Klima- und Lüftungsgeräte verzichten kann – frische Luft kommt von einem nahe gelegenen Kiefernwald. Mittels zweier Ansaugtürme am Waldrand und einem Erdkanal wird die Luft ins Gebäude geführt. Für den Antrieb des Luftstroms sorgt der Kamineffekt des Atriums.

Den Energiebedarf deckt zu rund einem Viertel eine Foto­voltaik-Anlage auf dem Dach, der Rest ist Ökostrom. Wasser für die ­Toilettenspülungen und den Außenbereich stellt eine ­unterirdische Regenwasserzisterne mit einer Million Liter ­Fassungsvermögen bereit.

ZIEL: ZUSAMMENARBEIT UND KOMMUNIKATION VERBESSERN UND RAUM FÜR KREATIVITÄT SCHAFFEN

HOMEOFFICE

Mit Beginn der Corona-Krise hat sich auch die Arbeitswelt gewandelt. Homeoffice wird in vielen Unternehmen nicht mehr als bloße theoretische Möglichkeit gesehen, sondern – mehr oder weniger zwangsweise – ganz praktisch im Arbeitsalltag mit Leben gefüllt. Bei Alnatura war das schon vor der Pandemie der Fall. Im Januar 2019 haben laut Angaben des Unternehmens knapp 40 Prozent der Bürobeschäftigten von zu Hause aus gearbeitet.

Das Bürogebäude ist als ein großer Raum konzipiert, der sich vom Erdgeschoss bis unter das Dach aufspannt. Damit es nicht zu laut wird, wölbt sich eine schallwirksame Decke aus Holzlamellen über das Atrium. In den Geschossen darunter sorgen Absorberstreifen in der Stahlbetondecke dafür, dass die Geräuschkulisse im Rahmen bleibt.

Denn klassische Einzelbüros gibt es nicht. Stattdessen dienen Sitzecken als Einzelarbeitsplätze, zu Besprechungen trifft man sich in sogenannten „Alkoven“ (kleine, abgetrennte Besprechungsinseln), Konferenzräumen mit Akustikvorhängen oder in der Teeküche. Ziel ist es laut Alnatura, „die Zusammenarbeit und Kommunikation zu verbessern und Raum für Kreativität zu schaffen durch vielfältige Möglichkeiten zu persönlichen ­Treffen“.

Einzelbüros Alnatura Firmenzentrale
Klassische Einzelbüros haben ausgedient. Das Unternehmen will „Raum für Kreativität schaffen durch vielfältige Möglichkeiten zu persönlichen Treffen“. Foto: Alnatura/Lars Gruber
Treppenhaus Alnatura Firmenzentrale Darmstadt
Die Bauweise und das Material führen im Zusammenspiel dazu, dass im Gebäude auf ressourcenintensive Klima- und Lüftungsgeräte verzichtet werden kann. Foto: Alnatura/Lars Gruber

Das klingt alles schon fast zu harmonisch und idyllisch. Schließlich handelt es sich immer noch um ein Wirtschaftsunternehmen, das Gewinn erzielen will und muss. Tatsächlich ist Alnatura nicht in allen Bereichen ein Vorzeigeunternehmen: Dazu gehört die Mitbestimmung – trotz aller Entfaltungsmöglichkeiten, die den Mitarbeitern versprochen und auch eingeräumt werden. Seit Jahren wehrt sich das Unternehmen mit Winkelzügen und Gerichtsverfahren dagegen, dass in einer Bremer Filiale ein Betriebsrat gegründet wird. Das wäre nach einer Freiburger Filiale der zweite – und hätte die arbeitsrechtliche Konsequenz, dass die insgesamt 3.350 Beschäftigten viel einfacher einen Gesamtbetriebsrat gründen könnten. Offensichtlich ist betrieblich organisierte Mitbestimmung kein Bestandteil der „neuen Formen der Zusammenarbeit“, wie sie Geschäftsführer Götz Rehn vorschweben.

ALNATURA IN ZAHLEN

901 MIO. €

betrug der Nettoumsatz im Geschäftsjahr 2018 / 19

+ 9,5 %

im Vergleich zum vergangenen Geschäftsjahr

3,350 MITARBEITER

sind beim Unternehmen beschäftigt

69 %

der Mitarbeiter sind Frauen

Allerdings sind nur

30 %

der Bereichsverantwortlichen und 53 % in anderen Führungspositionen weiblich – wobei das Unternehmen eine paritätische Besetzung anstrebt

136

„Alnatura Super Natur Märkte“ gibt es derzeit in 62 deutschen Städtenverschiedene Bio-Lebensmittel produziert Alnatura.
Sie werden in den eigenen Märkten und europaweit in

12.700

Filialen verschiedener Handelspartner vertrieben

Im Nachhaltigkeitsbericht betont Alnatura, was das Unternehmen unter verantwortungsvollem Handeln versteht: Das Unternehmen nimmt jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter in die Pflicht, „sich im eigenen Wirkungsbereich für mehr Nachhaltigkeit und ein partnerschaftliches Arbeiten auf Augenhöhe“ einzusetzen. Dadurch würden rechtliche Anforderungen wie der Umgang mit sensiblen Daten oder „die Beachtung von Arbeitnehmerrechten entlang der Lieferkette“ ganzheitlich mitgedacht.

Immerhin: Ein anderer großer Kritikpunkt an Alnatura, der Arbeitnehmeranspruch auf eine angemessene Entlohnung, ist Geschichte. Der interne Mindestlohn liegt mit 12 Euro deutlich höher als der gesetzliche Mindestlohn von 9,35 Euro. Das passt dann schon eher zum Unternehmensleitsatz „Sinnvoll für Mensch und Erde“, der sich im Nachhaltigkeitsbericht nachlesen lässt. Darin heißt es: „Indem Unternehmen soziale und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, können sie dazu beitragen, dass alle an der Wirtschaft Beteiligten einen fairen Lohn erhalten und sich durch ihre Arbeit entwickeln können.“

Text: Holger Schmidt