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Stark für den Arbeitsschutz?
Für die Befürworter sind Exoskelette die Wunderwaffe der Zukunft, die ihre Träger bei körperlich schweren Arbeiten entlasten und ihre Gesundheit schützen. Für die Skeptiker sind sie ein teures Spielzeug ohne nennenswerten Effekt. Wer recht hat, lässt sich nicht so leicht beantworten.
Keine Frage, der Robotics Park gehörte zu den Attraktionen bei der A+A 2021. Schließlich konnten die Messebesucher dort nicht nur gucken, sondern Exoskelette selbst anziehen und ausprobieren. Klar: Die Hersteller haben ein Interesse daran, dass potenzielle Kunden die Scheu und Skepsis gegenüber dieser immer noch jungen Technologie verlieren. Und dass diese „Roboteranzüge“ tatsächlich bei schweren Arbeiten unterstützen können, konnte man so am eigenen Leib erleben. Damit aus dieser gefühlten Wahrheit auch objektive Gewissheit wird, führte das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) während der Messe ein Live-Experiment durch. Die Ergebnisse dieses „Exoworkathlons“ sollen in einer Studie veröffentlicht werden.
Drei Stationen waren aufgebaut, die allesamt authentische Arbeitssituationen darstellten. Da mussten schwere Pakete aus einer Gitterbox hochgehoben, ein paar Meter getragen und dann in eine andere Box einsortiert werden. Palettieren und Kommissionieren, wie es in der Logistikbranche – beispielsweise bei Versanddiensten – üblich ist. Da musste ungefähr auf Augenhöhe eine gerade Linie geschweißt werden. Und da musste über Kopf am Unterboden einer Karosserie geschraubt werden. Typische Arbeiten beispielsweise in der Automobilindustrie.
DATENERHEBUNG BEIM „EXOWORKATHLON“
Viele Hersteller beteiligten sich und stellten ihre Exoskelette für das Experiment zur Verfügung. Die Probanden waren Auszubildende in den entsprechenden Berufen und gingen den Tätigkeiten jeweils eine Stunde mit und eine Stunde ohne Exoskelett nach. „Wir wollten die Daten in einem standardisierten Setting mit geschulten Mitarbeitern erheben, denn die führen die Handgriffe zielgerichtet aus“, erklärte Urban Daub, Gruppenleiter für Angewandte Biomechanik am Fraunhofer IPA. Die zentralen Fragen für die Studie lauteten: Inwiefern unterstützt ein Exoskelett? Inwiefern stört es? Denn zum einen geht es den Unternehmen, die über den Einsatz dieser Technologie nachdenken, um die Gesundheit der Beschäftigten. Zum anderen dürfen die Arbeits- und Produktionsprozesse jedoch nicht beeinträchtigt werden. „Es muss nicht unbedingt schneller gehen mit Exoskelett – aber es darf auf keinen Fall langsamer sein“, fasste Daub zusammen.
MUSKEL-SKELETT-ERKRANKUNGEN SIND HAUPTURSACHE FÜR ARBEITSUNFÄHIGKEITSTAGE
Schon bei der „WearRAcon“, einer Konferenz für tragbare Computertechnologien („Wearables“), hatte das Fraunhofer IPA das Live-Experiment mit den gleichen drei Arbeitssituationen durchgeführt und Daten für die Studie gesammelt. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, verriet Daub: „Im Mittel waren die Ergebnisse positiver, wenn Exoskelette genutzt wurden.“ Die Muskeln wurden messbar entlastet, das Herz wurde weniger beansprucht. Zudem schnitten die am Körper getragenen Assistenzsysteme auch bei der Befragung der Probanden im Hinblick auf Tragekomfort und Benutzerfreundlichkeit gut ab.
Dass die Technologie mit Blick auf die Gesundheit das Potenzial zum Hoffnungsträger hat, zeigt ein Blick auf die Zahlen. In den vergangenen Jahren waren Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) die Hauptursache für Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland. 22,3 Prozent aller krankheitsbedingten Fehltage waren laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) im Jahr 2019 darauf zurückzuführen. Wo technische und organisatorische Maßnahmen nicht möglich sind, um Rücken und andere beanspruchte Körperregionen zu entlasten, könnten Exoskelette als personenbezogene Maßnahme Abhilfe schaffen. Überall dort, wo die Automatisierung an ihre Grenzen stößt.
Dr. Kai Heinrich vom Institut für Arbeitsschutz (IFA) prognostizierte, dass Exoskelette in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen werden, „weil immer mehr Firmen darauf anspringen und Exoskelette entwickeln“. Dabei unterscheide man grundsätzlich zwischen zwei Arten, wie der Referatsleiter für Muskel-Skelett-Erkrankungen in seinem Vortrag im Rahmen des Kongresses für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin erklärte: Passive Exoskelette funktionieren mit energiespeichernden Elementen wie Feder- oder Seilzugsystemen, die Kräfte speichern und zurückgeben. Sie haben eine assistierende Wirkung, etwa bei Tätigkeiten in ergonomisch ungünstigen Haltungen. Aktive Exoskelette benötigen kraftgenerierende Komponenten (zum Beispiel einen elektrischen Motor oder pneumatischen Antrieb). „Man könnte sie schon fast als Roboter bezeichnen, die am Menschen angebracht werden“, veranschaulichte Heinrich. In der Reha kommen solche Exoskelette seit Längerem zum Einsatz, um beispielsweise Querschnittsgelähmten das Gehen zu ermöglichen. Im Arbeitsumfeld habe sich in der Praxis gezeigt, dass der Unterstützungseffekt nicht wesentlich größer sei als bei der passiven Bauart, so Heinrich.
IST EIN EXOSKELETT PERSÖNLICHE SCHUTZAUSRÜSTUNG ODER EINE MASCHINE?
Sowohl passive als auch aktive Exoskelette sollen in der industriellen Anwendung genau eine Funktion erfüllen, betonte
Heinrich: Überlastungsschutz. „Es geht nicht darum, dass ein Mensch übermenschliche Fähigkeiten erlangt.“ Grundsätzliche Fragen müssen außerdem noch geklärt sein. So ist erst in diesem Jahr ein DIN-Normenausschuss (NA 023-00-08 GA Exoskelette) gegründet worden, der auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Standards entwickeln und unter anderem klären soll: Was ist ein Exoskelett überhaupt? Ist es persönliche Schutzausrüstung (PSA) oder eine Maschine?
Ungeachtet dieser rechtlichen Unsicherheiten nutzen einige Industriezweige bereits die tragbaren Assistenzsysteme, und sei es erst einmal nur in Pilotprojekten. „Den größten Boom erleben Exoskelette derzeit in der Logistikbranche“, sagte Laurenz Ludwig, Sales und Development Manager bei Ottobock. Das Unternehmen, das auch orthopädische Produkte und Prothesen herstellt, bietet unter dem Markennamen „Paexo“ inzwischen sechs verschiedene Exoskelette an.
Der „Paexo Back“ beispielsweise unterstützt bei Tätigkeiten, bei denen der untere Rücken beansprucht wird – also etwa in Warenlagern oder Paketverteilzentren, wo die Beschäftigten häufig Lasten anheben und tragen müssen. Das Exoskelett funktioniert nach einem biomechanischen Prinzip: Die Last wird wie bei einem Rucksack an der Schulter abgenommen und mithilfe der Stützstruktur des Exoskeletts in die Oberschenkel umgeleitet. Der Energiespeicher nimmt beim Beugen Kraft auf und gibt sie beim Heben wieder ab. Dadurch soll der untere Rücken bei der Arbeit um bis zu 25 Kilogramm entlastet werden.
Der Kraftanzug „Cray X“ verspricht laut Hersteller German Bionic sogar eine Reduzierung der Hebelast um 30 Kilogramm. Das aktive Exoskelett lässt sich vernetzen und soll so selbstlernend Hebebewegungen verstärken und Fehlhaltungen vorbeugen. German Bionic selbst beschreibt das „Cray X“ als „intelligentes Bindeglied zwischen Mensch und Maschine“. Zusammen mit dem „Smart Safety Companion“, einer cloudbasierten Software, „schützt es die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter, verringert messbar Unfallrisiken und verbessert so die Arbeitsprozesse“.
DAS INSTITUT FÜR ARBEITSSCHUTZ TRITT EIN WENIG AUF DIE EUPHORIEBREMSE
Ein wenig trat IFA-Wissenschaftler Heinrich auf die Euphoriebremse. Zwar sei in Studien gezeigt worden, dass die Region des Körpers, die entlastet werden soll, durch das Tragen eines Exoskeletts tatsächlich entlastet werde. Andere Studien hätten aber ergeben, dass das Exoskelett andere, umgebende Muskulatur belasten könne. Heinrich veranschaulichte: „Die Belastung könnte sich unter Umständen von der Wirbelsäule in die Knie oder die Schulter verlagern.“ Kurzfristig komme es zu einer Reduzierung der Muskel-Skelett-Belastung. Wissenschaftliche Langzeitstudien würden allerdings fehlen, was auch daran liege, dass Exoskelette erst seit wenigen Jahren Marktreife erlangt hätten. Bei den Herstellerangaben in Maximalwerten – also beispielsweise Entlastung um 25 oder 30 Kilogramm – riet Heinrich zur Vorsicht. Der mittlere Wirkeffekt oder auch die negativen Effekte würden dabei vernachlässigt. Sein Fazit: „Die Gesamtbilanz ist noch nicht klar: Wirkt der Einsatz von Exoskeletten wirklich präventiv oder nicht?“